Von draußen leuchten Scheinwerfer ins Schlafzimmer. An der Wohnungstür klopfen Spezialisten für "Ausmietung". Der Leidensweg der Mieter in einem Wiener Zinshaus begann lang bevor der neue Eigentümer schließlich das Dach über ihren Köpfen entfernte. Die Baupolizei stoppte das Vorhaben. Trotzdem: Das Dach ist weg, teils fehlen die Fenster. Wie geht es weiter?

Als das Gerüst aufgebaut wurde, ahnten die Mieter noch nichts. »Es gab weder einen Brief noch einen Aushang«, erinnern sie sich. Tags darauf wurden die Bewohner von Erschütterungen und ohrenbetäubendem Lärm aus dem Schlaf gerissen. Über ihren Köpfen demolierten Arbeiter mit Abbruchhämmern den Turm des Eckhauses. Schutt und Dachziegel ratterten über eine Rutsche in eine Mulde in der Nebenstraße. »Alles ging unglaublich schnell«, wundert sich eine Mieterin. Die alarmierte Baupolizei stoppte schließlich den Abriss.

Magistrat: Haus erhaltenswert
Seit 22. Juni steht das Haus in der Radetzkystraße im 3. Bezirk nun ohne Dach da, teils auch ohne Fenster, eingerüstet. Offenbar wollte der Eigentümer, ein millionenschwerer Immobilienunternehmer aus Wien, noch kurz vor der Anfang Juli in Kraft getretenen, strengeren Bauordnung vollendete Tatsachen schaffen. Die neue Bauordnung stellt nämlich Altbauten unter größeren Schutz als bisher. Für einen Abriss braucht es nun auch die Zustimmung der Magistratsabteilung für Architektur und Stadtgestaltung (MA 19). Für das Haus in der Radetzkystraße liegt eine Stellungnahme der MA 19 bereits vor: das im Jahr 1847 errichtete Bauwerk sei wegen seines äußeren Erscheinungsbildes und seiner architekturhistorischen Qualität schützenswert. Für den Eigentümer ist der Abriss anscheinend trotzdem noch nicht vom Tisch – er hat Rechtsmittel gegen den Abbruch-Stopp ergriffen.

Acht Mieter leben nun mitten in Wien buchstäblich ohne Dach über dem Kopf. In der Früh gilt ihr erster Blick dem Himmel, der zweite dem Wetterbericht. Denn Regen bedeutet Stress: bereits zwei Mal kam es zu Wassereinbrüchen mit Feuerwehreinsätzen. Die Baupolizei beauftragte in der Folge Abdichtungen sowie eine Sicherung der Kamine gegen Stürme.

So stieg der Druck auf die Mieter
Im Kampf um ihr Zuhause sind die Mieter zusammengerückt. Manche wohnen bereits Jahrzehnte in der Radetzkystraße, in den letzten Jahren seien sie allerdings zunehmend unter Druck gesetzt worden.  

Bis 2015 sei im Haus alles normal gewesen, sagen die Mieter im Gespräch mit Fair Wohnen. Der damalige Besitzer habe Steigleitungen erneuert, Wohnungen saniert und das Gebäude gut in Stand gehalten.

Dann wurde das Haus verkauft. Der neue Eigentümer bot den Mietern an, die Wohnungen im Eigentum zu erwerben. »Ich habe seinerzeit Ablöse bezahlt und in der Zwischenzeit zwei Mal auf eigene Kosten saniert«, erzählt eine Mieterin. »Wenn ich die Wohnung kaufe, müsste ich 200 Jahre alt werden, damit sich das rechnet.«

Schon 2016 wurde das Haus erneut verkauft. Der neue Eigentümer verbreitete rasch Unsicherheit unter den Bewohnern, sprach von Baumängeln im Haus, die aufwendig behoben werden müssten. In leer stehende Wohnungen seien plötzlich »interessante Mieter« eingezogen, erinnert sich die Hausgemeinschaft.

Scheinwerfer ins Schlafzimmer
Der neue Besitzer ließ das Haus von einem Gerüst einhüllen, in dessen Mitte eine großflächige Werbung prangte. Oben am Gerüst ließ er weit auskragende Scheinwerfer anbringen, die in der Nacht in die Fenster der Mieter leuchteten. Offizieller Grund für die Scheinwerfer war selbstverständlich die nächtliche Beleuchtung der Werbefläche. »Das war Terror«, sagt eine Mieterin. Während die Bewohner noch Rechtsauskünfte einholten, machte die Natur der Licht-Plage ein Ende. »Ein Herbststurm hat die ganze Konstruktion zerlegt«, erinnert sich ein Mieter. Scheinwerfer und Werbung waren nun weg, das Gerüst wurde jedoch von einer weiteren Plane umhüllt und ließ nur noch wenig Tageslicht in die Wohnungen.

Spezialist für »Ausmietung«
Im Mai 2017 erwarb der jetzige Eigentümer das Haus. Anfänglich bekamen die Mieter von dem erneuten Besitzerwechsel nicht viel mit, da die Hausverwaltung nicht wechselte und sich nur Kontonummer und Empfänger auf den Erlagscheinen geändert hatte.

»Eines Freitags hat es dann an unsere Tür geklopft«, schildert eine Mieterin. Besucher war ein Mann, der sich laut eigenen Angaben auf »Ausmietung« – also das Entfernen langjähriger Mieter, um Wohnungen leer zu bekommen – spezialisiert hat. Das Haus sei in einem schlechten Zustand und werde abgerissen, drohte der Ausmieter. Die Mieter ließen sich aber nicht einschüchtern: »Österreich ist ein Rechtsstaat, haben wir gesagt. Wir wollen nicht ausziehen.«

Im Oktober 2017 war eine Wohnungsbegehung avisiert. Die Mieter hatten allerdings bereits Mieterhilfe sowie Gebietsbetreuung informiert und zum Termin eingeladen. Als die Ausmieter die Anwesenheit der Mietrechtler bemerkten, brachen sie die Wohnungsbegehung ab. »Meine Wohnung wollten sie gar nicht besichtigen. Sie wollten mir nur klarmachen dass das Haus abgerissen wird und ich ausziehen muss«, erzählt eine Mieterin. Auch seitens der Hausverwaltung sei Ähnliches zu hören gewesen. Bei Schadensmeldungen hätte man lapidar ausgerichtet, dass nichts mehr repariert werde. »Man hat uns gesagt, wir werden abgesiedelt«, erinnert sich eine andere. »Das Gerede vom Abriss hielten wir aber für eine leere Drohung.« Wer reißt schon ein bewohntes Gebäude ab?   

Bangen vor dem Winter
Jetzt drängt die Zeit. Bald kommt der Winter mit Frost und Schnee. Wegen der fehlenden Fenster besteht bei Frost die Gefahr, dass Leitungen einfrieren. »Hier kann die Baupolizei einschreiten und entsprechende Maßnahmen beauftragen«, erklärt Ronald Schlesinger von der Mieterhilfe Wien. Bei starkem Schneefall könne auch die Schneeräumung am Dach beauftragt werden.

Mietervereinigung hilft
Um den Mietern beizustehen und zu ihrem Recht zu verhelfen, formierte sich nun eine breite Allianz. Die Mietervereinigung (MVÖ) und der Mieterschutzverband vertreten die Mieter und brachten gemeinsam direkt beim Bezirksgericht eine einstweilige Verfügung und einen Erhaltungsantrag ein.

»Die einstweilige Verfügung ist eine Notmaßnahme«, erklärt Elke Hanel-Torsch, Wiener Landesvorsitzende der MVÖ. Der Hauseigentümer sei zu Erhaltungsarbeiten verpflichtet. »Mit dem Erhaltungsantrag wollen wir erreichen, dass alle Mängel beseitigt werden - also das Dach in Ordnung gebracht wird, Fenster wieder eingesetzt und die demolierten Teile in Stand gesetzt werden«, sagt Hanel-Torsch. Unterstützung kommt dabei auch vom Rechtshilfefonds der Stadt Wien. »Wir bündeln alle Kräfte«, sagt Schlesinger.

»Dass ein bewohntes Haus abgerissen wird, hat es bis dato in Wien noch nicht gegeben. Jetzt wollen wir den Fall auch rechtlich ausleuchten und damit verhindern, dass sich so etwas in Zukunft wiederholen könnte«, sagt Hanel-Torsch.