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Rechtsprechung, Wien 20.07.2023

Landesgericht zerpflückt »Lawinen«-Gutachten

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Einen großen Erfolg erzielte die Mietervereinigung für einen Mieter vor dem Wiener Landesgericht. Im Rechtsstreit hatte das Gutachten eines Sachverständigen eine zentrale Rolle gespielt. Es ging um die Frage: ist die konkrete Lage in Wien überdurchschnittlich gut?

 

Am Ende freute sich Mieter Markus Müller (Name von der Redaktion geändert) über eine Rückzahlung von mehr als 7.500 Euro. Die Vorgeschichte: Im Oktober 2010 hatte Müller eine Wohnung in einem Altbau unweit der Reinlgasse in Wien-Penzing gemietet. 44 Quadratmeter im Hochparterre, befristet auf vier Jahre. Die Vermieterin verlangte monatlich 283,82 Euro Nettomiete – wertgesichert. Zwei Mal wurde Müllers Vertrag um jeweils drei Jahre verlängert. Im August 2020 wandte sich Müller an die Mietervereinigung (MVÖ), um Mietvertrag und -höhe überprüfen zu lassen.

Lagezuschlag: 

 

Der Lagezuschlag ist nur einer von mehreren Faktoren aus denen sich der höchstzulässige Richtwertmietzins einer Wohnung ergibt. Aufgrund seines enormen Anstiegs in den letzten Jahren wurde er zum Hauptpreistreiber im Richtwert-System.
 
Die Mietervereinigung tritt für die Abschaffung des Lagezuschlags ein, da dieser nur die Infrastrukturleistungen der Gemeinde widerspiegelt, aber keinen persönlichen Leistungseinsatz des Liegenschaftseigentümers.
 
>> Weitere Informationen zum Thema Lagezuschlag finden Sie hier.

 

>> Fair Wohnen berichtete im September 2021 erstmals über den kuriosen Fall. Den gesamten Artikel zum Nachlesen finden Sie hier.

 

Schlichtungsstelle

 

Weil die Miete zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses unter Einrechnung des Befristungsabschlages von 25% mit € 8,59/m² um über 75% höher angesetzt wurde als der Richtwert (2010: € 4,91/m²), beantragte Müller, vertreten durch MVÖ-Experte Oliver Ruetz, noch im August eine Entscheidung der Schlichtungsstelle (MA25).

 

Amtsgutachten: Kein Zuschlag

 

Nachdem das Amtsgutachten der MA25 zu dem Schluss kam, dass in diesem Fall keine überdurchschnittliche Lage vorläge und ein Lagezuschlag somit nicht zulässig wäre, zog die Vermieterin das Verfahren im Oktober 2020 von der Schlichtungsstelle zum Bezirksgericht ab.

 

Gericht beauftragt Gutachter

 

Das Bezirksgericht beauftragte wiederum einen Gutachter mit einer Bewertung der konkreten Lage. Im Juni 2021 legte der bestellte Sachverständige sein 120-Seiten-Gutachten vor.

 

»Lawinen«-Gutachten

 

Das Gutachten sorgte bei den erfahrenen MVÖ-Experten für Verwunderung. Zum Beispiel stufte der Sachverständige die Lawinengefahr (!) im Umkreis der Reinlgasse als »gering« ein, was der Logik seines eigenen Bewertungssystems nach bedeutet, dass selbst die durchschnittlichste aller Wiener Wohnlagen als »überdurchschnittlich« gilt, wenn nur die Lawinengefahr »gering« ist. In der Skala des Sachverständigen wäre für eine Durchschnittsbewertung in diesem Punkt in Wien eine »erhebliche« (!) Lawinengefahr nötig.

 

Bezirksgericht: Lagezuschlag

 

Im Verfahren lieferte der Sachverständige eine Punktlandung ab und schätzte die Lage als »leicht überdurchschnittlich« ein. Im Juni 2022 entschied das Bezirksgericht Fünfhaus: Ein Lagezuschlag sei zulässig.

 

MVÖ legt Rechtsmittel ein

 

MVÖ-Experte Ruetz legte dagegen Rechtsmittel ein (sog. »Rekurs«, über den das instanzenmäßig übergeordnete Gericht entscheidet – in diesem Fall das Landesgericht).

 

Landesgericht: Kein Zuschlag

 

Ende Jänner entschied schließlich das Landesgericht: die Lage sei durchschnittlich, ein Lagezuschlag stehe daher nicht zu. In der Begründung setzte sich das Gericht recht ausführlich mit den Feststellungen des Erstgerichts – die weitgehend dem Gutachten des Sachverständigen folgten – auseinander und zerpflückte diese.

 

Lage »ist Rechtsfrage«

 

Das Landesgericht betonte, dass die Frage der Lagequalität »eine Rechtsfrage ist, die vom Richter und nicht vom Sachverständigen zu lösen ist.« Dass der Sachverständige im Gutachten von einer »leicht überdurchschnittlichen Lage« ausging, sei daher in rechtlicher Hinsicht nicht bindend. »Vielmehr hat das Gericht die vom Gutachter herausgearbeiteten tatsächlichen Kriterien für die Ermittlung des Lagezuschlags einer eigenen rechtlichen Beurteilung zu unterziehen«, heißt es im Sachbeschluss.

 

Punkt für Punkt

 

Das Landesgericht setzte sich mit den Lagemerkmalen des Sachverständigen-Gutachtens auseinander und hob einige Punkte hervor.

 

Lawinen und Naturgefahren

  • Bezirksgericht: Die Liegenschaft befindet sich in keiner Gefahrenzone betreffend Hochwasser, Erdbeben, Lawinen.
  • Landesgericht: Dies stellt weder für das Referenzgebiet noch das restliche Wiener Stadtgebiet ein Alleinstellungsmerkmal dar. Lärm Bezirksgericht: Hinsichtlich Lärmkategorien wie Straßenverkehr, Schienenverkehr, Flugzeuge und Industrie befindet sich die Liegenschaft in keiner »Konfliktzone«. Landesgericht: Das sagt nichts darüber aus, dass die Lärmsituation besser als in vergleichbaren Lagen wäre, sondern nur, dass sie nicht besonders schlecht ist.

 

Individualverkehr

  • Bezirksgericht: Aus der Innenstadt kommend ist die Liegenschaft mit individuellen Verkehrsmitteln zB. über die Operngasse, ... , Beckmanngasse und Goldschlagstraße erreichbar.
  • Landesgericht: Aus der reinen Darstellung der möglichen Erreichbarkeit des Hauses mit individuellen Verkehrsmitteln ist wenig zu gewinnen. Es zeigt aber, dass jedenfalls eine relevante Entfernung zur Innenstadt vorliegt.

 

Öffis

  • Bezirksgericht: Die Straßenbahnlinien 10 und 52 befinden sich in rund 170 bis 280 Metern bzw. zwei bis drei Minuten Fußweg.
  • Landesgericht: Von einer besonders verkehrsgünstigen Lage kann in einer Großstadt nicht gesprochen werden, wenn die Stationen zweier Straßenbahnlinien (10 und 52) fußläufig zu erreichen sind.

 

Nahversorgung

  • Bezirksgericht: Die Einrichtungen der täglichen Nahversorgung befinden sich in der Umgebung ... Allgemeinmediziner, Fachärzte, Zahnärzte und Apotheken befinden sich in unmittelbarer Nähe.
  • Landesgericht: Auch die Einkaufs- und Nahversorgungsmöglichkeiten in der Wohnumgebung können nach den Feststellungen als durchschnittlich qualifiziert werden, ergibt sich daraus doch nur, dass diese vorhanden sind, aber weder deren Anzahl, noch die Entfernung. Gleiches gilt für die medizinische Versorgung.

 

Diverses

  • Bezirksgericht: Tankstellen in der Felberstraße und der Ameisgasse, E-Ladestationen sind in der Umgebung seit 2017/2018 vorhanden. Die gegenständliche Liegenschaft liegt im Geschäftsgebiet der Carsharing Anbieter.
  • Landesgericht: All das ist im innerstädtischen Gebiet üblich.

 

Fazit

 

Mieter Müller freut sich nun über die Rückzahlung von über 7.500 Euro und das Themenfeld »Gutachten zum Lagezuschlag« ist um eine Facette reicher.

 

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