Recht, Rechtsprechung, Wien 19.12.2022
Was ist eine Wohnumgebung? Was ist ein Viertel? Wie wird die Lage einer Liegenschaft bewertet? Rund um das leidige Thema Lagezuschlag mehren sich die Fragen, wie ein konkreter Fall aus Wien zeigt.
Das System der Richtwertmiete, das in sogenannten »Altbauten« (vor 1945 errichtet) gilt, soll die Mietzinse begrenzen. Mithilfe eines Vergleichs einer fiktiven mietrechtlichen »Normwohnung« soll durch eine Reihe von Zu- und Abschlägen der höchstzulässige Mietzins an eine konkrete Wohnung angepasst werden können.
Lagezuschlag
Ein gesetzlich möglicher Zuschlag ist jener für eine gute – überdurchschnittliche – Lage. Während es für unterdurchschnittliche Lagen keinen gesetzlichen Abschlag gibt, kann für überdurchschnittliche Lagen ein Zuschlag verrechnet werden. Die Mietervereinigung fordert schon lange die Abschaffung des Lagezuschlags - auch, weil dieser nur die Infrastrukturleistungen einer Gemeinde widerspiegelt, aber keinen persönlichen Leistungseinsatz des Liegenschaftseigentümers.
Was ist »überdurchschnittlich«?
Der Lagezuschlag ist umstritten und die Auslegung der zugrunde liegenden Gesetzesbestimmungen beschäftigen regelmäßig Schlichtungsstelle, Gerichte und auch den Obersten Gerichtshof (OGH). Im Kern geht es um die Frage, ob die Lage einer bestimmten Wohnumgebung als überdurchschnittlich anzusehen ist.
Wie ist dies zu beurteilen? Einer Entscheidung des OGH (5 Ob74/17v) zufolge ist dafür die »allgemeine Verkehrsauffassung und die Erfahrung des täglichen Lebens« maßgeblich. Für eine überdurchschnittliche Lage brauche es konkrete Umstände – die bloße Erreichbarkeit von Bus, U-Bahn und Supermärkten in weniger als 5 Minuten Gehweite reiche dafür in einer für Wien typischen Wohnumgebung nicht aus. Die Magistratsabteilung 25 der Stadt Wien stellt in einer Lagezuschlagskarte farblich dar, in welchen Gebieten ein Lagezuschlag theoretisch möglich ist und welche Gebiete als »höchstens durchschnittlich« gelten. In der Praxis nutzen Vermieter allerdings recht häufig die Möglichkeit, diese Einstufung zu bestreiten und ein Gutachten eines Sachverständigen zur Ermittlung des Lagezuschlags erstellen zu lassen.
Gründerzeitviertel
Für einen Lagezuschlag muss neben einer überdurchschnittlichen Lage außerdem ein zweites Merkmal zutreffen: Die Liegenschaft darf sich nicht in einem sogenannten »Gründerzeitviertel« befinden. Dabei handelt es sich um Wohngebiete mit typisch gründerzeitlicher Bebauung mit Gebäuden, die im Zeitpunkt der Errichtung zwischen 1870 und 1917 einen Anteil von mehr als 50 Prozent kleiner und mangelhaft ausgestatteter Wohnungen aufgewiesen haben.
Gründerzeitviertel sind zwingend als höchstens durchschnittliche Lage einzustufen, sodass für sie kein Lagezuschlag möglich ist. Wo sich diese Gebiete in Wien befinden, ist in einem amtlichen Straßenverzeichnis ersichtlich.
Nach der Rechtsprechung kann der Vermieter jedoch den Gegenbeweis erbringen, dass eine Liegenschaft - entgegen der Anführung im amtlichen Verzeichnis - doch nicht mehr in einem Gründerzeitviertel liegt, etwa weil die Mehrzahl der Gründerzeithäuser bereits durch Neubauten ersetzt wurden.
Fall in Hernals
Anhand eines konkreten Falls lässt sich zeigen, wie stark in der Praxis die »allgemeine Verkehrsauffassung und die Erfahrung des täglichen Lebens« divergiert. Der Fall illustriert exemplarisch auch die Problematik von unterschiedlichen Definitionen von Wohnumgebung und Viertel.
Das Verfahren dreht sich um eine Altbau-Wohnung unweit des Elterleinplatzes im Herzen von Wien-Hernals. Die Vermieter hatten das Mietzins-Verfahren von der Schlichtungsstelle zu Gericht abgezogen. In der Folge ging es darum, ob ein Lagezuschlag zulässig ist – und damit um die Frage, ob erstens die Lage überdurchschnittlich ist und zweitens ein Gründerzeitviertel vorliegt.
Die Lagezuschlagskarte der Stadt Wien weist die Umgebung als durchschnittlich aus, laut amtlichem Straßenverzeichnis befindet sich die Liegenschaft darüber hinaus in einem Gründerzeitviertel. Damit stünde kein Lagezuschlag zu.
Gutachten 1 – Mai 2017
Der erste Sachverständige, von den Vermietern beauftragt, bewertet die Umgebung als überdurchschnittlich, weil sich »alle wesentlichen Infrastruktureinrichtungen im unmittelbaren Nahebereich« befänden. Die abgebildeten Karten, auf denen Infrastruktur wie Bäckereien, Supermärkte und Restaurants eingezeichnet ist, reichen im Süden weit über den Yppenplatz im benachbarten Ottakring und im Osten bis über den Hernalser Gürtel.
Ob das Gebiet ein Gründerzeitviertel ist? Der Sachverständige steckt ein Gebiet »bestehend aus mehreren Wohnblöcken« ab (siehe Grafik): Hier seien von 29 Gebäuden nur 4 Gründerzeithäuser im Sinne des Richtwertgesetzes. Damit liege kein Gründerzeitviertel mehr vor und ein Lagezuschlag sei zulässig.
Das Bezirksgericht kritisiert die Darstellung des Sachverständigen und bemängelt die Planausschnitte zur Infrastruktur, »die das gegenständliche Objekt nicht einmal am Rande erfassen«. Mit dem zur Gründerzeit-Frage untersuchten Plangebiet sei »offensichtlich jener Häuserblock ausgewählt worden, welcher die für die Antragsgegner günstigste Variante ermöglichte«, da in diesem »eine für die Gegend untypische Häufung von nach 1945 errichteten Objekten gegeben ist.« Das Gutachten könne vom Gericht nicht verwertet werden.
Gutachten 2 – Oktober 2017
Der zweite Sachverständige, vom Bezirksgericht beauftragt, weist in seinem Gutachten darauf hin, dass sich die Liegenschaft seinen Recherchen zufolge in einem Gründerzeitviertel befinde. Ein Lagezuschlag stehe daher nicht zu. Unter »eingeschränkten Bedingungen«, schreibt er, könne auch im Gründerzeitviertel ein Lagezuschlag geltend gemacht werden. »Die Ermittlung dieser Grundlagen bedürfte allerdings einer gesonderten gerichtlichen Beauftragung.«
Gutachten 3 – Jänner 2019
Der vom Gericht beauftragte Sachverständige legt sein zweites Gutachten vor. Dieses soll nun klären, ob es sich um eine durchschnittliche oder nicht durchschnittliche Lage handelt. Die Vorzüge der Infrastruktur fasst er zusammen, indem er einen Umkreis von rund 4 Gehminuten auf einer Karte darstellt und eine Fülle von Einrichtungen aufzählt – die sich allerdings teils weit außerhalb dieses Umkreises befinden. In einer zusammenfassenden Tabelle am Ende des Kartenteils werden die genannten Einrichtungen trotzdem als »innerhalb einer Gehzeit von 4 Minuten« bezeichnet. Letztlich schätzt der Sachverständige die Lage – unter anderem wegen der »Nahversorgung von Grundstück und Quartier« – als überdurchschnittlich ein.
Zur Frage des Gründerzeitviertels untersucht er die Gebäude »in unmittelbarer und vergleichbarer Umgebung« der Liegenschaft (siehe Grafik).
Nach Dafürhalten des Sachverständigen wurden 53% der untersuchten Gebäude in der Bauperiode 1848-1918 errichtet und damit »die Einstufung der MA50 belegt, die bewertungsgegenständliches Gebäude als 'in einem Gründerzeitviertel gelegen' betrachtet.«
Das Bezirksgericht urteilt im Juli 2019, dass kein Lagezuschlag zulässig ist. Das Landesgericht für Zivilrechtssachen entscheidet jedoch im Oktober 2019 im Rekursverfahren, dass das Erstgericht den Sachverständigen ergänzend zu befragen habe, ob ein Gründerzeitviertel vorliege – da vor 1870 errichtete Gebäude nicht in die Berechnung einzubeziehen seien, sondern nur solche, die in der Zeit von 1870 bis 1917 errichtet wurden.
Gutachten 4 – August 2020
Der Sachverständige legt sein drittes Gutachten zum konkreten Fall vor. Es geht nun nur noch darum, ob ein Gründerzeitviertel vorliegt oder nicht. Diesmal zieht der Gutachter »typische geographische Grenzen« zur Definition des Viertels, wobei »die vier Eckpunkte des Viertels mindestens 5 Minuten von der bewertungsgegenständlichen Liegenschaft entfernt« seien (siehe Grafik).
Nun liege dem Sachverständigen zufolge plötzlich doch kein Gründerzeitviertel mehr vor.
Fragen aufgeworfen
Nach all den Gutachten bleiben Rätsel – unter anderem: Warum umfassen die Einrichtungen der Infrastruktur, die laut vorigem Gutachten in 4 Gehminuten erreichbar seien, ein größeres Gebiet als jenes zur Bewertung des Gründerzeitviertels, dessen Eckpunkte laut diesem Gutachten mindestens 5 Gehminuten von der Liegenschaft entfernt sind? Würden jene Häuserblocks in die Gründerzeit-Bewertung aufgenommen, in der sich die erwähnten Infrastruktureinrichtungen befinden, ergäbe sich ein Bereich wie in der Abbildung unten – mit ungleich höherer Wahrscheinlichkeit für eine Einstufung als Gründerzeitviertel, weil hier Gebäude aus der Bauperiode 1848-1917 überwiegen (siehe Grafik).
Zwei Sachverständige und vier Gutachten haben im konkreten Fall viele Fragen aufgeworfen. Ein Einzelfall. Aber er gibt Einblick in das Problemfeld des Lagezuschlags – eines Instruments, das keine einzige Wohnung billiger, aber viele immer teurer macht.