Österreich, Politik 09.07.2018
Stadtforscher Justin Kadi analysiert im Interview mit „Fair Wohnen“ die Pläne der Regierung zum Thema Wohnen, erklärt die Bedeutung von Altverträgen, Investitionslogiken und Verdrängung und skizziert mögliche Eckpunkte eines neuen, fairen Mietrechts.
Fair Wohnen: In einem Interview haben Sie kürzlich gesagt, dass der private Wohnungsmarkt die Menschen »sortiert«. Inwiefern?
Justin Kadi: Der private Mietwohnungsmarkt ist, was Preisstruktur und Mieten betrifft, sehr differenziert. Die geographische Lage nimmt über den Lagezuschlag Einfluss darauf, wie viel Miete man in diesem Sektor zahlt. Ende der 90er-Jahre musste man in einem attraktiven Viertel etwas über 3 Euro pro Quadratmeter mehr zahlen. Heute sind wir bei 10,93 Euro. Hier findet ein sozial gestaffelter Sortierungsprozess statt.
Dabei hängt die Wahlfreiheit eines Mieters aber nicht nur von finanziellem, sondern auch von sozialem Kapital ab: Wenn man seinen Gehaltszettel abgeben oder sich beim Vermieter vorstellen muss, kann auch Diskriminierung eine Rolle spielen.
Fair Wohnen: Der Lagezuschlag ist in den letzten Jahren stark gestiegen und an den Grundstückspreis gekoppelt. Könnte man über den Lagezuschlag auch wieder gegensteuern – wie könnte das aussehen?
Kadi: Die Frage ist, bis zu welchem Grad man im Vollanwendungsbereich des Mietrechtsgesetzes (MRG), also dem striktest regulierten Bereich des Mietrechts, Grundstückspreise einrechnen will.
Fair Wohnen: Es braucht also neue Kriterien für den Lagezuschlag?
Kadi: Es braucht eine grundsätzliche und breit geführte Diskussion darüber, inwiefern das Instrument des Lagezuschlags gerechtfertigt ist oder nicht.
Der Lagezuschlag ist eigentlich absurd. Denn die Lage hat nichts damit zu tun, was der jeweilige Immobilieneigentümer macht, sondern mit öffentlichen Geldern, die die Stadt investiert. Diese Gelder machen die Stadt für alle besser, werden aber am Ende von den privaten Vermietern über den Umweg höherer Mieten als Gewinn abgeschöpft.
Die Diskussion geht derzeit in zwei Richtungen: Einerseits öffnet sich mit der jüngsten OGH-Entscheidung zum Lagezuschlag ein Möglichkeitsfenster für Einschränkungen.
Auf der anderen Seite schreibt die Bundesregierung in ihr Programm, die Ausnahmen vom Lagezuschlag in Gründerzeitvierteln aufzuheben. Das geht in eine ganz andere Richtung. Von der Gründerzeitregelung sind zwischen 90.000 und 100.000 Wohnungen betroffen. Derzeit unterliegen dem Vollanwendungsbereich des MRG in Wien etwa 215.000 Wohnungen. Durch die hohe Anzahl an befristeten Mietverträgen sind Änderungen bei den Lagezuschlägen relativ rasch einzupreisen. Das kann massive Auswirkungen auf jene Gebiete haben, in denen Leute mit relativ weniger Geld zentrumsnah wohnen können.
Fair Wohnen: Sie haben schon vor längerem gesagt, dass es höchste Zeit wäre, für Gentrifizierung nach Wien zu schauen.
Kadi: Die Diskussion zu Gentrifizierung in Wien muss breiter werden, damit auch in der Öffentlichkeit ankommt, welche Probleme es mit sich bringt, wenn Leute verdrängt werden.
Ein wichtiger Faktor sind befristete Mietverträge. Für einen Vermieter sind die Möglichkeiten, in einem bestehenden Vertrag Anpassungen vorzunehmen, durch das Mietrecht begrenzt. Mit der Wiedervermietung eröffnen sich allerdings Spielräume. Je mehr befristete Mietverträge es gibt, desto größer werden diese Spielräume.
Im privaten Bestand in Wien gibt es mittlerweile etwa ein Drittel befristeter Mietverträge. Bei Neuverträgen sind gar zwei Drittel befristet. Das setzt eine starke Dynamik in Gang.
Fair Wohnen: Wird die Diskussion um Gentrifizierung derzeit noch zu akademisch geführt?
Kadi: Ich denke es wird momentan noch zu wenig breit darüber diskutiert, welche Auswirkungen es hat, wenn sich in der Innenstadt immer weniger Leute das Wohnen leisten können. Die Diskussion ist in Österreich immer noch stark vom Recht des Eigentums und Eigentümerinteressen geprägt. Man muss aber auch die andere Seite sehen. Ich glaube, es bräuchte hier mehr Zuspitzung und Bewusstseinsbildung. Es geht darum, dass Leute aus ihren angestammten Wohnungen und Nachbarschaften verdrängt werden. Da liegt Arbeit vor uns, um für mehr Klarheit in der Debatte zu sorgen.
Fair Wohnen: Wie Sie aufgezeigt haben, finden sich in den Plänen der Regierung zahlreiche Forderungen der Immo-Lobby. Wenig überraschend würden die meisten dieser Maßnahmen keine Verbesserungen für Mieter bringen. Aus ihrer Sicht: was ist das für Mieter problematischste Vorhaben in diesem Regierungsprogramm?
Kadi: Das Regierungsprogramm schmückt sich mit blumigen Formulierungen, die suggerieren, dass am Ende für alle alles besser wird. Hier gilt es, kritisch auf die Fakten zu blicken.
Bei drei konkreten Maßnahmen sehe ich Gefahr für die Situation von Mietern. Über den möglichen Lagezuschlag in Gründerzeitvierteln haben wir schon gesprochen - das würde viele Wohnungen in Wien treffen.
Eine andere Geschichte ist die bisher noch vage gehaltene Formulierung des „angemessenen“ Mietzinses bei Sanierung. Wenn ich das richtig interpretiere, dann steckt dahinter, dass man ein Haus aus dem Vollanwendungsbereich des MRG heraus sanieren kann. In anderen Städten – zum Beispiel in Berlin – ist dies ein gängiges Mittel geworden, um Erträge zu maximieren und Mieter zu verdrängen. Dort wurden massiv Wohnungen saniert, allerdings an den Bedürfnissen der Leute vorbei.
Ein weiterer Punkt sind Änderungen bei den Eintrittsrechten in Mietverträge. Die Immobilienwirtschaft behauptet gerne, dass die große Zahl an Altverträgen den Markt verzerren würde. Wenn diese Altverträge teurer werden, würden dafür die Preise insgesamt sinken, lautet das Argument. Doch es gibt gar nicht so viele Altverträge, wie gerne erzählt wird: Auswertungen der Statistik Austria zeigen, dass 85 % der privaten Mietverträge in Österreich in den letzten 20 Jahren abgeschlossen wurden. Die restlichen Altverträge, die es noch gibt, sind essenziell dafür, einen gewissen Bestand an leistbaren Wohnungen in der Stadt zu halten. Fallen sie weg, trifft das vor allem junge Menschen, die neu in den Wohnungsmarkt eintreten.
Fair Wohnen: In Österreich gibt es im internationalen Vergleich einen hohen Anteil an Mietern. Nun wird ein höherer Anteil von Eigentum als wünschenswert propagiert. Für Eigentum gibt es aber hohe Einstiegshürden. Das muss man sich erst leisten können…
Kadi: Eigentum ist nur höheren Einkommen zugänglich. Für die meisten Leute, gerade in Wien, ist eine Eigentumswohnung keine Option. Die Preisentwicklung war dort in den letzten Jahren rasanter als im Mietbereich.
Um die Eigentumsquote zu erhöhen, sind meiner Meinung nach nur zwei Maßnahmen denkbar. Beide hätten allerdings katastrophale Folgen.
Eine Maßnahme wäre eine massive Privatisierung von sozialem Wohnungsbau, weil hier die Möglichkeit besteht, öffentliches Eigentum relativ billig abzugeben. Damit würde ein größeres, sozial durchmischtes Segment mit qualitativ hochwertigem Wohnraum in Frage gestellt werden und in Richtung eines sozialen Wohnungsbaus wie in Großbritannien oder in den USA führen, wo es einen kleinen, residualen Sektor gibt, der stigmatisiert ist.
Eine zweite Maßnahme wäre, an einer wesentlichen Säule der Stabilität des österreichischen Bankensystems zu rütteln – nämlich den Eigenkapitalvorschriften für die Kreditvergabe an private Haushalte. Wenn man heute zur Bank geht, muss man zwischen 20 und 30 % an Eigenmitteln für einen Kredit bereitstellen können. Somit lässt sich auch relativ schnell ausrechnen, für wie wenig Leute das eine denkbare Option ist. Senkt man allerdings die Eigenkapitalvorschriften, bringt das die Stabilität der Volkswirtschaft in Gefahr. Die weltweite Finanzkrise 2008 hat es gezeigt. Einer ihrer wesentlichen Auslöser war die Vergabe laxer Immobilienkredite in den USA um mehr Leuten Zugang zu Wohnungseigentum zu verschaffen.
Fair Wohnen: Immer wieder wird das Argument vorgebracht, dass ein freier Wohnungsmarkt die Mieten senken würde. Der Markt würde das dann schon regeln, heißt es. Dabei ist es doch so, dass es ja ohnehin bereits einen freien Wohnungsmarkt gibt. Der Richtwert gilt nur für Altbauten. Für Neubauten gilt er nicht. Hier kann man also verlangen, was der Markt hergibt. Trotzdem steigen die Mieten stärker als die Einkommen. Funktioniert ein freier Wohnungsmarkt nicht?
Kadi: Dass ein unregulierter Markt zu einer besseren Versorgung führt, wie uns die Immobilienwirtschaft nur zu gern weismachen möchte, ist eine Mär. Die angesprochene Situation im Mietrecht ist das beste Beispiel. Mietrechtlich ist der private Neubau ja wesentlich geringer als der Altbau reguliert. Ausreichend neue Wohnungen gibt es trotzdem nicht.
Der Kern des Problems liegt darin, dass der Wohnungsmarkt kein vollkommener Markt ist. Der Wohnungsmarkt funktioniert eben nicht wie der Orangen- oder Bananenmarkt.
Wohnen hat als wirtschaftliches Gut bestimmte Besonderheiten, die dazu führen, dass sich Angebot und Nachfrage nicht ausgleichen. Wohnungen sind etwa in der Bereitstellung sehr kapitalintensiv; gleichzeitig dauert es lang, um sie bereitzustellen. Außerdem haben Mieter keine vollständige Information über den Markt, wie es für einen funktionierenden Markt nötig wäre. All das führt dazu, dass Wohnungsmärkte unvollkommene Märkte sind. Wir sprechen von systematischem Marktversagen.
Fair Wohnen: Was heißt das für Mieter?
Kadi: Für Mieter ist das Problem, dass der private Mietwohnungsmarkt systematisch darin versagt, Wohnungen für Leute mit wenig Geld bereitzustellen. Ganz simpel heruntergebrochen: der private Eigentümer möchte mit der Wohnung gern eine überdurchschnittliche Rendite verdienen. Diese lässt sich aber nicht mit unterdurchschnittlichen Mieten verdienen. Wenn man baut, vermittelt man also lieber an die Mittelschicht oder an die reicheren Haushalte. Deshalb ist der private Wohnungsmarkt am sozialen Auge blind.
Ich finde es absurd, dass wir immer noch darüber diskutieren, ob man durch Deregulierung des privaten Marktes wesentliches bewirken kann. Die Erkenntnis, dass das nicht funktioniert, hatte man in Wien schon am Ende der Gründerzeit – das war der Ausgangspunkt für sozialen Wohnungsbau.
Fair Wohnen: Obwohl die Preise für Zinshäuser steigen und Renditen von rund 4 Prozent erwartet werden, wird immer wieder behauptet, dass sich das Investment nicht rechnen würde. Es gebe so viel zu sanieren, durch das Mietrecht könne man nur niedrige Mieten verlangen. Wie sinnvoll ist es, in etwas zu investieren, das sich angeblich nicht rechnet?
Kadi: Das Argument, dass man mit einem Zinshaus nichts verdienen kann, ist Teil der Diskussion, mit der von Seiten der Immobilienwirtschaft versucht wird Regulationen abzuschaffen, damit man mehr verdienen kann.
Momentan sind Immobilien immer noch lukrativer als die meisten anderen Anlageformen. Deswegen gibt es ja so viele Investitionen in den Sektor. Derzeit gibt es noch eine zu undifferenzierte Diskussion über die Verwertungsmodelle im Zinshausbereich – als wäre die Vermietung die einzige Möglichkeit. Das ist ja nicht so. Parifizierung und Umwandlung in Eigentumswohnungen spielt etwa mittlerweile eine wesentliche Rolle in Wien. Weil die Eigentumspreise derzeit rasant steigen, kann es sich auszahlen, ein Zinshaus zu kaufen, das Haus zu parifizieren und die Wohnungen einzeln zu verkaufen. Bei einem Haus mit 10 Wohnungen kann man womöglich schon mit drei oder vier verkauften Einheiten den Kaufpreis abgedeckt haben. Der Rest ist dann Gewinn.
Was ebenfalls stattfindet und wenig Aufmerksamkeit in der öffentlichen Debatte hat: man kauft ein Haus, lässt es verfallen, reißt es anschließend ab und baut dann neu –Vorsorgewohnungen oder neue Mietwohnungen, die nicht in den Vollanwendungsbereich des MRG fallen und zum freien Mietzins vermietet werden können. Es gibt also einiges an Spielräumen unter den derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Fair Wohnen: Die Investoren haben sich also nicht in den Ruin gestürzt?
Kadi: (lacht) Das glaube ich nicht.
Fair Wohnen: Im Zinshausmarkt ist die Immobilie bereits mehrfach ausfinanziert. Wie bewertet man so eine Immobilie? Um als Investor meine Rendite zu berechnen, muss ich eine Nutzungsdauer ansetzen. Wie lang ist die?
Kadi: Es ist das Geschäft der Investoren, das zu machen – unter den regulativen Bedingungen, die wir haben. Oft sind die Kalkulationen auf einen Weiterverkauf angelegt. Es gab eine Studie unseres Instituts zu Transaktionen im Zinshausbestand in Wien von 1985 bis 2005. In diese Zeit fällt die Forcierung der sanften Stadterneuerung Anfang der Neunziger und die Mietrechtsreform 1994. Ein Ergebnis der Studie war, dass innerhalb dieser 20 Jahre 25 Prozent des Gebäudebestands in diesem Sektor den Besitzer gewechselt haben und die Behaltedauer immer kürzer wird. Die Studie zeigt also, dass Investoren oftmals gar nicht so langfristig kalkulieren, sondern mit Parifizierung und dem Verkauf einzelner Wohnungen oder Hausverkauf rechnen. In der kritischen Wohnungsforschung gibt es dazu noch viel Forschungsbedarf.
Fair Wohnen: Was wäre an Forschung im Detail nötig?
Viele Städte sind heute damit konfrontiert, dass neue Akteure aus dem Finanzmarkt eine größere Rolle im Wohnungsmarkt übernehmen. Es ist wichtig, kritisch hinzuschauen und Wissen darüber zu erarbeiten, wie diese Akteure am Wohnungsmarkt operieren, was ihre Interessen sind, wie sie ihre Wohnungen bewirtschaften und vor allem welche Auswirkungen das für Mieter hat. In diesen Bereich, in Fragen von regulativen Lücken, Investitionslogiken und Bewirtschaftungsstrategien muss viel mehr Forschung einfließen.
Fair Wohnen: Wo würden Ihrer Meinung nach die Eckpunkte eines neuen Mietrechts zu setzen sein? Worauf müsste es basieren, um Wohnen trotzdem leistbar zu halten?
Kadi: Aus der Sicht von Mietern gedacht fallen mir drei Dinge ein.
Erstens: Der Lagezuschlag sollte abgeschafft werden.
Zweitens: Das System der Mietzinsfestsetzung muss wesentlich transparenter für Mieter werden als das aktuelle Richtwertsystem.
Drittens: Die Befristungsmöglichkeiten sollten eingeschränkt werden. Die Beschleunigung und zunehmende Marktausrichtung durch Befristungen findet ja nicht nur am Wohnungsmarkt, sondern auch am Arbeitsmarkt statt. Prekarisierung, Projektarbeit, Anstellung auf kurze Dauer restrukturiert die Erwerbstätigkeit vieler Menschen und schafft Unsicherheit.
Fair Wohnen: Spricht das nicht auf der anderen Seite für befristete Mieten?
Kadi: Das ist ein von der Immolobby oft vorgebrachtes Argument. Es lässt aber eine weit bekannte Realität des Mietrechts komplett außen vor. Tatsache ist: Ein Mieter mit einem unbefristeten Mietvertrag kann jederzeit kündigen, jederzeit woanders hinziehen. Ich bin als Mieter nicht gezwungen, alle drei oder fünf Jahre wieder auf den Wohnungsmarkt zu schauen. Bei einer Befristung kann es mir allerdings schnell passieren, dass ich keinen Job und keine Wohnung mehr habe.
Fair Wohnen: Vielen Dank für das Gespräch.
Justin Kadi forscht an der Technischen Universität Wien. Schwerpunkte seiner Forschungstätigkeit sind Wohnungspolitik, Gentrifizierung und soziale Ungleichheit in der Stadt.