International, Politik, Wien
30.06.2025
Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf angemessenes Wohnen, Balakrishnan Rajagopal aus den USA, sprach im Zuge seines Wien-Besuchs mit MVÖ-Expertin Marisa Herzog-Perchtold über Verwundbarkeit, Leistbarkeit, Finanzialisierung und Domizid.
Marisa Herzog-Perchtold: Was ist aus Ihrer Sicht die größte globale Herausforderung im Bereich Wohnen und Mieten?
Balakrishnan Rajagopal: Mieten. Letztes Jahr habe ich der UNO einen Bericht über die weltweite Krise des leistbaren Wohnens vorgelegt. Immer mehr Menschen können sich ihre Wohnung nicht mehr leisten. Viele Menschen leben zur Miete, aber sie werden ignoriert. In vielen Gesellschaften liegt der Schwerpunkt zu sehr auf dem Wohneigentum, das als das vorherrschende Modell angesehen wird. Dort, wo Mieter überhaupt anerkannt werden, reichen künstliche Grenzwerte zur Belastung durch Mietkosten wie 30 oder 40 Prozent des Einkommens nicht aus, um die tatsächlichen Auswirkungen der Mietbelastung zu erfassen.
Das ist richtig.
Denn die Frage, ob 30, 40 oder 50 Prozent eine akzeptable Mietbelastung sind, hängt davon ab, welche weiteren Kosten auf die Familie zukommen – hohe Gesundheitskosten, teure Bildung, enorme Kosten für Mobilität. Vieles hängt von den sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab, und das Lohnniveau ist in einer Gesellschaft extrem wichtig. Deshalb habe ich mich geweigert, in meinem Bericht spezifische Indikatoren zu verwenden oder eine Grenze zu ziehen, ab der wir leistbares Wohnen garantieren müssen. Leistbarkeit hat nicht so sehr mit der Höhe der Miete zu tun, sie hat etwas mit Verwundbarkeit zu tun. Was wir brauchen, ist eine Analyse der Verwundbarkeit, nicht der Angemessenheit. Angemessenheit ist ein relativer Begriff. Was für Sie angemessen ist, muss nicht unbedingt für mich angemessen sein und umgekehrt. Aber Verwundbarkeit kann objektiv analysiert werden. Alleinstehende Frauen, Haushalte mit älteren Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen, die ethnischen, rassischen oder anderen Minderheiten angehören, die mit allen möglichen Hindernissen beim Zugang zu alltäglichen sozialen Dienstleistungen konfrontiert sind - diese Art von Analyse ist aus der Perspektive des Rechts auf Wohnen nützlicher.
Ich habe die Länder ermutigt, detailliertere Datenanalysen durchzuführen. Denn nur sehr wenige statistische Ämter führen solche Analysen durch. Und strenge Mietgesetze einzuführen. Sie müssen in der Lage sein, die Mietmärkte zu regulieren. Mietkontrolle und Mietobergrenzen sind wichtig für das Lösen der Probleme, auch weil es in einigen Ländern keine Mietgesetze gibt.
Welches Hauptziel verfolgen Sie als Sonderberichterstatter für das Recht auf angemessenen Wohnraum während Ihrer Amtszeit?
Ich denke, ein Berichterstatter für das Wohnungswesen hat die Aufgabe, einen Beitrag zum Schutz der Menschenrechte zu leisten. In meinem Fall ist dies das Recht auf Wohnen. Ich habe versucht, Themenberichte zu wichtigen Fragen zu erstellen, wie Leistbarkeit, Klimawandel, Konflikte, Diskriminierung, soziale Segregation oder Massenvertreibung. Diese Themen sind schwierig zu behandeln. ich habe mein Bestes getan, um auf individuelle Beschwerden zu reagieren und in vielen Ländern in wichtigen Rechtsfällen zu intervenieren. Die Herausforderungen sind enorm und es ist schwer zu sagen, ob sich etwas verbessert hat. Aber ich habe in meiner Zeit als Sonderberichterstatter einige positive Dinge erreicht.
Haben Sie während Ihrer Arbeit etwas gesehen oder erlebt, von dem andere lernen können? Gibt es ein herausragendes Vorbild oder Beispiel?
Es gibt eine Menge kleiner Beispiele in verschiedenen Ländern. Ich habe die Regierung der Bahamas dazu gebracht, eine Siedlung, die ausschließlich aus haitianischen Flüchtlingen bestand zu räumen und einen Dialogprozess in die Wege zu leiten, der zu humaneren Lösungen für die Krise führt. Ich habe den Niederlanden empfohlen, das 2012 abgeschaffte Ministerium für Wohnungswesen wieder einzurichten – was innerhalb weniger Monate umgesetzt wurde. In Indonesien wurden Zwangsräumungen im Rahmen eines von der Asiatischen Infrastrukturbank finanzierten Projekts aufgrund meiner Intervention gestoppt. Wir müssen Veränderungen auf der menschlichen Ebene herbeiführen und gleichzeitig auf der institutionellen, rechtlichen Ebene etwas bewirken.Nur so sind die Veränderungen nachhaltig. Wir müssen also Schritt für Schritt vorgehen.
Auf globaler Ebene gibt es Länder, die Wohnen nicht als Menschenrecht anerkennen. Angefangen bei den Vereinigten Staaten. Die USA haben nie ein wirtschaftliches, soziales oder kulturelles Recht als Menschenrecht anerkannt. Und die meisten der in der Europäischen Sozialcharta anerkannten Rechte haben sie erst recht nicht. Die USA haben also wirklich ein Problem. Es gibt andere Länder, die diese Rechte auf dem Papier anerkennen, und zwar in vollem Umfang. Sie haben Verträge unterzeichnet, Gesetze verabschiedet und Verfassungen mit eindrucksvollen Formulierungen über das Recht auf Wohnraum verfasst. Aber in der Realität wird nichts davon umgesetzt. Diese Rechte werden völlig ignoriert, als irrelevant betrachtet. Es gibt also ein Scheitern bei der Anerkennung und ein Scheitern an der Durchsetzung und Umsetzung. Es gibt also verschiedene Länder in verschiedenen Stadien.
Wie sollten wir angesichts der wachsenden Weltbevölkerung das Wohnen in der Zukunft denken und organisieren?
Sie haben auch den Klimawandel erwähnt. Das wird eine große Herausforderung für uns alle. Ich bin der Meinung, dass viele Menschen sich nicht darüber im Klaren sind, wie bedeutend der Einfluss des Wohnens auf das Klima ist. In meinem Bericht über die Klimakrise, Global Climate Crisis on the Right to Housing, habe ich die Hypothese aufgestellt, dass etwa 37 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen aus dem Bausektor stammen. In dieser Zahl sind die Gebäude, der Transport, die verwendeten Materialien und die Kosten für Maßnahmen zur Ökologisierung enthalten. Ich denke, dass es noch nicht genügend Einsicht und Druck gibt, um alternative Designs und Baumaterialien, Transportmodelle und nicht zuletzt alternative Energiequellen zu finden, um auf eine wirklich nachhaltige Welt hinzuarbeiten. Für mich ist der Klimawandel vielleicht der größte Aspekt, den wir nicht wahrhaben wollen, weil die Weltbevölkerung wächst. Aber das andere Problem, über das ich mir ernsthaft Sorgen mache, ist die Leistbarkeit. Die exzessive Finanzialisierung und die Rolle der Grundstücksspekulation sind die Hauptgründe. Es geht nicht so sehr um den Wohnungsbau. Im Wohnungswesen wird die Finanzialisierung des Wohnens thematisiert. Ja, der Wohnungsbau ist finanzialisiert. Aber das größte Problem für die Leistbarkeit ist nicht die Finanzialisierung des Wohnraums. Es ist die Finanzialisierung des Bodens. Wenn Grund und Boden als Spekulationsobjekt betrachtet werden und die Grundstückswerte als Auslöser für spekulative oder gewinnorientierte Bautätigkeit gelten, wird Wohnraum unleistbar. Das sieht man in jedem einzelnen Land. In meinem Bericht über leistbaren Wohnraum habe ich unmissverständlich darauf hingewiesen, dass man die Grundstückspreise in den Griff bekommt, wenn man die Kontrolle über das Grundstück selbst hat.
Fakt ist: 70 Prozent der Kosten eines jeden Neubaus gehen auf die eine oder andere Weise auf das Konto des Grundstücks. Die Baumaterialien machen nur einen kleinen Teil der Kosten aus. Der Grundstückspreis ist der wichtigste Faktor im Wohnungsbau. Ich bin sehr besorgt darüber, dass Grund und Boden zunehmend als knappes Gut angesehen werden.
Ein sehr wertvolles Gut.
Das ist ein ernstes Problem. Darüber hinaus verursacht die wachsende Zahl bewaffneter Konflikte große Schäden an Wohnraum. Immer mehr Menschen leben in Städten. Wenn Kriege ausbrechen, werden die Städte angegriffen und Wohnraum in großem Umfang zerstört. Das hat man in der Ukraine und Gaza gesehen. Die Zerstörung des Gazastreifens hat die Zerstörung ganzer Stadtgebiete bedeutet. Am Ende bleiben Trümmer. Man muss dekontaminieren, aufräumen und wieder aufbauen, wie man es aus Europa kennt, denn europäische Städte wurden im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt. In Dresden gab es Anfang der 2000er Jahre Bürgerentscheide, ob dieser oder jener Ort wieder aufgebaut werden soll – über 50 Jahre nach Kriegsende. Je urbaner unser Planet wird, desto dringender muss Frieden herrschen.
Wenn wir unsere Konflikte nicht reduzieren und keinen Frieden schaffen, dann stehen wir als Menschheit vor schwierigen Zeiten. Es gab übrigens auch einen Bericht über Konflikte und das Recht auf angemessenes Wohnen. Ein interessanter Aspekt, diese beiden Probleme zusammen zu sehen. Ich habe meinen Bericht zu Konflikten bei der UN Generalversammlung 2022 vorgestellt. Europa und die USA haben ihn gelobt und sich auf die Ukraine konzentriert. Ich habe vor Domizid gewarnt. Die massive Zerstörung von Wohnraum hatte keinen Namen – daher habe es Domizid genannt.
Ein treffendes Wort für ein furchtbares Vergehen.
Manchmal übersteigt das Ausmaß der Gewalt unsere Vorstellungskraft. Die Benennung gibt uns die Möglichkeit, das Geschehene zu begreifen und schafft ein Bewusstsein, das die Menschen für diese Probleme sensibilisiert. Es ist wichtig, Dinge zu benennen, auch die massive Zerstörung von Wohnraum. Im Zweiten Weltkrieg wurden regelmäßig Wohnungen zerstört, sowohl von den Alliierten als auch von den Deutschen. Die massenhafte Zerstörung von Wohnraum wurde jedoch nie als Verbrechen verfolgt. Miet- und Wohnrechtler konzentrieren sich oft auf die lokale Arbeit vor Ort und Themen wie Leistbarkeit. Aber man darf nicht vergessen, dass man 100 Jahre an der Verbesserung einer Stadt wie Wien arbeiten kann, um dann innerhalb von 24 Stunden durch einen Krieg alles zu verlieren. Konflikte sind die größte Bedrohung für den Wohnraum. Wir haben international viel über die Finanzialisierung des Wohnungsmarktes gesprochen, das ist auch ein Problem. Aber im Vergleich wird die Finanzialisierung den Wohnungssektor nicht über Nacht zerstören.
Danke für ihren Besuch und das interessante Gespräch.