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Österreich, Wien 19.03.2018

„Die Mieten explodieren“

  • Stadtsoziologin Mara Verlic; Foto: MVÖ

Das soziale Gefüge Wiens gerät in Gefahr – stark steigende Mieten befeuern einen Verdrängungsprozess, den Fachleute „Gentrifizierung“ nennen. Im Fair-Wohnen-Interview erklärt Stadtsoziologin Mara Verlic, was es damit auf sich hat.

 

Fair Wohnen: Als Stadtsoziologin sind Sie Expertin für Themen wie Gentrifizierung und Segregation. Was bedeuten diese Begriffe?

Mara Verlic: Segregation ist das Gegenteil von dem, was man in Wien gern „soziale Durchmischung“ nennt. Es bedeutet eine Konzentration von Bevölkerung anhand sozialer Merkmale. Meist zieht man ökonomische Kriterien heran; also etwa einen Stadtteil mit überdurchschnittlich vielen Niedrigverdienern.

 

Fair Wohnen: Wie wirkt sich Segregation auf den Stadtraum aus?

Verlic: Im Vergleich zu anderen Großstädten hat Wien die Gemeindebauten über einen weiten Stadtraum verteilt. Der Gedanke dahinter war, Stigmatisierung von bestimmten Gegenden zu verhindern. Man kann das auch von einer anderen Seite sehen: Soziale Durchmischung wurde in Wien zwar oft gefordert, aber immer darauf bezogen, keine Konzentration von armen Leuten oder einer bestimmten ethnischen Gruppe entstehen zu lassen. Weil die Mehrheitsgesellschaft vor der Sichtbarkeit von Armut oder Migration Angst hat.

Segregation hängt aber mit einem Verdrängungsprozess zusammen, der als Gentrifizierung bezeichnet wird. Dabei geht es um die Frage: Wo finden einkommensschwache Haushalte noch leistbaren Wohnraum? In den Innenstädten ist dies oft gar nicht mehr möglich. Das ist eine Gefahr für das soziale Gefüge einer Stadt.

 

Fair Wohnen: Gibt es Gentrifizierung in Wien? Wenn ja, wo? Manche sagen, es sei eine sanfte Stadterneuerung, andere wiederum sagen, das funktioniere in Wien nur schleichend.

Verlic: Gentrifizierung in Wien gibt es definitiv. Darüber herrscht inzwischen auch Konsens. Beispiele sind die Reindorfgasse im 15. Bezirk, große Teile des 2. Bezirks, der Yppenplatz im 16. Bezirk. Historisch fast als abgeschlossen kann man den Prozess am Spittelberg im 7. Bezirk sehen. Das erscheint dann in Medien als Gentrifizierung, weil man es an hippen Kaffeehäusern festmachen kann, die plötzlich in ArbeiterInnenvierteln auftauchen. In Wahrheit geht der Prozess über das Sichtbare wie Bobo-Kaffeehäuser hinaus. Er betrifft flächendeckend den gründerzeitlichen Bestand der Stadt, die Zinshäuser in den innerstädtischen Lagen.

 

Fair Wohnen: Inwiefern?

Verlic: Das ist ein privater Mietwohnungsmarkt. Durch die Reformen, die in den 1990er-Jahren im Mietrecht durchgeführt worden sind, hat sich dort – auch angeschoben durch die sanfte Stadterneuerung – ein Prozess in Gang gesetzt, der starkes Investment und hohe Profite zulässt. Die Mieten explodieren. Das ist der Motor für Gentrifizierung. Wenn es attraktiv ist, eine Wohnung zu sanieren und höher zu vermieten oder auch unsaniert höher zu vermieten oder zu verkaufen, entsteht ein Druck auf die MieterInnen dort. So entsteht die Gefahr, dass diese aus ihrem Wohnraum verdrängt werden. Die Verdrängung kann auf zwei Arten geschehen: Einerseits direkt, was durch das bestehende österreichische Mietrechtsgesetz – eigentlich – verhindert werden sollte. Andererseits indirekt, weil am Zinshausmarkt ein Renditeschritt zwischen alten und neuen Mietverträgen zu machen ist. Wenn ein Haushalt auszieht, dann wird der neue Vertrag um einiges teurer sein. So entwickelt sich in den Häusern eine neue soziale Zusammensetzung – plötzlich wohnen darin Besserverdiener. Für einkommensschwächere Haushalte bedeutet das, nicht mehr in den Innenstädten wohnen zu können.

Was wir auch in Wien sehen können: Es wird nicht nur freiwillig ausgezogen. Wegen der hohen Renditeerwartung wird ein hoher Druck auf MieterInnen ausgeübt. Das können falsche Informationen über den Mietvertrag sein. Manche halten das für wahr und ziehen aus. Andere kennen vielleicht ihre Rechte besser oder haben die Chance auf Mietrechtsberatung, werden dann aber teilweise tyrannisiert – Gas abdrehen, Fenster entfernen, oder es stehen plötzlich Unbekannte vor der Tür. In diesen Situationen muss man erst in einen Kampfmodus kommen, damit man sie durchsteht. Viele sagen: Ich will meinen Frieden, ziehe woanders hin.

 

Fair Wohnen: In den Gründerzeitvierteln ist das Risiko für Gentrifizierung am größten?

Verlic: Im ganzen Zinshausmarkt. Auch noch innerhalb des Gürtels, obwohl da vieles schon passiert ist. Die Gründerzeitviertel sind aber sicherlich ein Hotspot für diesen Prozess.

 

Fair Wohnen: In Gründerzeitvierteln darf derzeit  – noch – kein Lagezuschlag verrechnet werden. Wo landen jene, die sich das Wohnen dort nicht mehr leisten können?

Verlic: Wir sehen anhand statistischer Daten eine Auswärtsbewegung. MieterInnen, die früher in zentraler Lage am Gürtel gewohnt haben, ziehen tendenziell an den Rand eines Bezirks, wo es günstiger ist. Eine wichtige Ressource für leistbaren Wohnraum ist der ausfinanzierte geförderte Wohnbau. In Floridsdorf und in Donaustadt gibt es noch solchen günstigen Wohnraum.

 

Fair Wohnen: Das bedeutet, Einkommensschwache werden zunehmend an die Ränder der Stadt gedrängt.

Verlic: Nicht an alle. An Ränder mit schlechterer Verkehrsanbindung und schlechterer Wohnsubstanz.

 

Fair Wohnen: Ist dieser Prozess noch zu ändern oder zu stoppen?

Verlic: Er würde sich aufhalten oder zumindest verbessern lassen. Zentral wäre eine Mietrechtsreform, wobei es wichtig wäre, den Lagezuschlag sofort abzuschaffen. Das hätte einen Effekt.

Wie Untersuchungen zeigen, wird in fast keinem der überprüften Mietverträge der gesetzliche Mietzins eingehalten. Da kann ja nur etwas falsch sein an der Rechtssituation. Ein Mietrechtsgesetz ist unfair, wenn es für die MieterInnen hinsichtlich der Zuschläge unklar und undurchsichtig ist.

Entscheidend wäre die Abschaffung von befristeten Mietverträgen. Befristungen sind mit über 60 Prozent der Neuabschlüsse die neue Norm der Mietverträge. Dabei tragen sie das System der indirekten Verdrängung schon in sich, weil der Mietvertrag alle paar Jahre neu aufgesetzt wird und damit eine Anhebung des Mietzinses möglich ist. Das macht es MieterInnen auch schwierig, Rechtshilfe in Anspruch zu nehmen.

Wenn ich einen befristeten Vertrag habe, werde ich mir genauer überlegen, ob ich gegen den Mietzins zur Schlichtungsstelle gehe, weil ich dann sicher sein kann, dass ich den Vertrag nicht mehr verlängert bekomme. Die Befristung ist eigentlich ein starker Rechteverlust für MieterInnen. Aus unbefristeten Mietverträgen kann man zwar hinausgeekelt werden, aber man hat immerhin das Recht auf seiner Seite.

 

Fair Wohnen: Als eine Gegenmaßnahme gegen Segregation wird sozialer Wohnbau in verschiedenen Teilen der Stadt genannt. Ist das räumlich, baulich, von der Akzeptanz her möglich?

Verlic: Ich denke, es ist gesellschaftspolitisch nicht unbedingt notwendig, eine Konzentration von einkommensschwachen Haushalten innerhalb eines Gemeindebaus zu verhindern. Warum sollten Leute, die von knappen Einkommen betroffen sind, ein besseres Leben haben, wenn sie neben einem wohnen, der viel mehr Geld hat als sie? Das ist ja eine fast pädagogische Maßnahme, die da manchmal politisch formuliert wird. Dagegen sträube ich mich.

Ein Weg, den man intensiver gehen könnte, wäre, in jedem Neubau- oder Stadtentwicklungsgebiet für eine durchmischte Auffächerung von Wohnbau zu sorgen, wie etwa beim Projekt Wildgarten (im 12. Bezirk, Anm.). Dort entstehen etwa 1.200 Wohneinheiten - teils Neuer Gemeindebau, teils Gemeinnütziger Wohnbau, aber auch Eigentums- und privat finanzierte Mietwohnungen. Wir (die Caritas, Anm.) sind im Rahmen der Bauträgerkooperation fünf Jahre vor Ort und bauen ein Bestandsobjekt zu einem Kindergarten und Nachbarschaftszentrum aus – ein wichtiger Beitrag für das neue Quartier, das sonst hauptsächlich Wohnfunktion hat.

 

Fair Wohnen: Wie sieht die Bauträgerkooperation bei der Caritas aus?

Verlic: Konkret arbeiten wir hauptsächlich mit gemeinnützigen Bauträgern. Diese müssen bei Bauprojekten in Wien verschiedene Kriterien erfüllen. Eines davon ist die soziale Nachhaltigkeit. Das ist eine Kompetenz, die Bauträger oft an uns auslagern. Wir begleiten dann den Wettbewerb, sprechen mit, was die Zusammensetzung der Wohnungen in einem Haus betrifft, sind auch an der Planung von Gemeinschafts- und Begegnungsräumen beteiligt.

 

Fair Wohnen: Welche Vorgaben gibt es da? Wie weit können Sie auf den Auftraggeber einwirken?

Verlic: Gute Frage. Unsere Rolle ist intermediär zwischen BewohnerInnen und Bauträgern. Wir bekommen den Auftrag von den Bauträgern, aber wir sehen unseren Auftrag vor allem in der Arbeit mit den BewohnerInnen. Es ist natürlich ein schwieriges Feld, in dem sehr viel kommuniziert werden und sehr viel Abstimmung folgen muss.

 

Fair Wohnen: Nachhaltigkeit ist ein Wort, das alles und nichts bedeuten kann. Wie sieht soziale Nachhaltigkeit konkret aus?

Verlic: Ein zentraler Punkt im gemeinnützigen Bereich ist die Leistbarkeit des Wohnraums. Derzeit ist der geförderte Wohnungsmarkt nicht ganz fähig, für arme Bevölkerungsgruppen das richtige Angebot zu stellen - nicht aus Schuld der Akteure, sondern aufgrund der Umstände, dass die Bodenpreise so hoch sind, teilweise auch die Baukosten. Die Nachfrage nach günstigen Smart-Wohnungen ist enorm hoch. Und selbst Smart-Wohnungen sind nicht für alle wirklich leistbar. Jeder zehnte Wiener Haushalt muss 40 Prozent seines Einkommens für Miete ausgeben, das ist eine erschreckende Summe.

Es gibt aber nicht nur finanzielle Barrieren. Wenn man sich über die Wohnberatung Wien für eine Gemeindewohnung oder für eine zugeteilte gemeinnützige Wohnung anmeldet, muss man bestimmte Kriterien erfüllen. Beispielsweise muss man einen durchgängigen Wohnsitz von zwei Jahren nachweisen. Wir wissen von anderen Abteilungen der Caritas, dass das für viele Leute ein Problem darstellt. Wir setzen uns dafür ein, dass in Neubauprojekten bestimmte Smart-Wohnungen für Housing-First-Einrichtungen gewidmet werden, also für Leute, die aus der Wohnungslosigkeit kommen. Oder für AlleinerzieherInnen.

Neben Leistbarkeit und Zugänglichkeit ist das Recht auf Mitgestaltung ein wichtiger Punkt. Das muss nicht heißen, dass jede Person frei wählen kann, wie jeder Grundriss aussieht. Aber es muss ein Recht geben, aktiv in der Nachbarschaft leben zu können und mit seinen Bedürfnissen gehört werden zu können. Um solche Prozesse zu starten, sind Gemeinschaftsräume ein guter Ort. Ein grundsätzliches Recht auf Mitsprache gibt es auch in der Nachbarschaft, nicht nur in der großen Politik.

 

Fair Wohnen: Was uns zum Thema des öffentlichen Raums bringt: Wie wird er genutzt? Wie wäre er im Idealfall zu nutzen?

Verlic: Das Verschwinden einkommensschwacher Schichten bildet sich auch im öffentlichen Raum ab. Wenn öffentlicher Raum in guten Lagen zum Wohnumfeld einer Immobilie wird, besteht die Gefahr, dass dort bestimmte Leute nicht mehr gern gesehen werden. Dann kommt es zur Verdrängung der Drogenszene am Karlsplatz, zur Sanktionierung von BettlerInnen im öffentlichen Raum, zur Einführung von Zonen für StraßenmusikantInnen, die zuerst von der Stadt Wien gecastet werden, bevor sie dort spielen dürfen. Diese Reglementierung des öffentlichen Raumes trifft bestimmte schlechter gestellte Gruppen, weil man es bestimmten anderen Gruppen rechter machen möchte.

Ich habe das Ideal, dass der öffentliche Raum für viele gesellschaftliche Gruppen offen ist. Das heißt, dass er nicht nur kommerziell ist, dass er nicht nur betreten werden darf, wenn man es sich leisten kann. Dazu braucht es dringend konsumfreie öffentliche Räume, die trotzdem eine Aufenthaltsqualität haben. Räume, die man nicht nur durchgehen kann, sondern in denen man auch sitzen und zusammenkommen kann.

 

Mara Verlic beschäftigt sich als Stadtsoziologin mit Themen wie Gentrifizierung und Segregation. Sie ist bei der Caritas in der Stadtteilarbeit tätig und Projektleiterin im Bereich Bauträgerkooperationen.

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