Europa, International, Politik 14.06.2019
Barbara Steenbergen, Leiterin des EU-Büros der internationalen Mietervereinigung in Brüssel, spricht im Fair-Wohnen-Interview über leistbares Wohnen in Europa und erklärt, warum eine Zielgruppendefinition der EU zum Problem für sozialen Wohnbau geworden ist.
Fair Wohnen: Wer ist in der IUT vertreten?
Barbara Steenbergen: Die IUT vertritt 69 Mitgliedsverbände aus 45 Ländern – weltweit. Was die Anzahl der Mitglieder betrifft, sind die europäischen Verbände – beispielsweise Deutschland, Frankreich und Schweden - am stärksten, weil es hier den größten Organisationsgrad gibt und ein Großteil der Menschen zur Miete wohnt. In Österreich (die Mietervereinigung ist als Gründungsmitglied Teil der IUT, Anm.) ist die Mitgliederzahl naturgemäß kleiner, dafür ist man hier umso schlagkräftiger. In Dänemark gibt es derzeit viel Zulauf aufgrund des umstrittenen Ghetto-Gesetzes der Regierung.
Worum geht es bei diesem Gesetz?
Als »Ghetto« wird in Dänemark ein Stadtviertel eingestuft, wenn Kriterien wie eine erhöhte Arbeitslosen- und Kriminalitätsrate zusammenkommen. Anstatt in Bildung, Arbeit und sichere Nachbarschaften zu investieren und den Menschen zu helfen, diskutiert die Regierung sogar darüber, ganze Wohnblöcke abzureißen. um die Anzahl der Sozialwohnungen zu reduzieren. Menschen sollen aus diesen Gebieten ausgewiesen werden. Keiner weiß jedoch, wo diese Menschen leben sollen. Da wird einem angst und bange.
Dänemark galt doch lange als weltoffen und fortschrittlich...
Skandinavien galt lange relativ immun gegen rechtspopulistische Strömungen, es ist jedoch eine Radikalisierung eingetreten. Parteien vom rechten Rand, wie zum Beispiel die dänische Volkspartei, die aus dem Neonazi-Milieu entstandenen Schwedendemokraten oder die rechtspopulistischen Basisfinnen, erhalten viel Zulauf. Das ist einerseits alarmierend, andererseits entwickelt sich daraus auch eine Gegenbewegung und immer mehr Leute entdecken die Wichtigkeit der Mietervereine als solidarische Institutionen.
Das Büro der IUT befindet sich in Brüssel. Warum? Weil man näher an den sogenannten »Institutionen« dran ist?
Wir haben 2008 in Brüssel unser »Verbindungsbüro zu den EU Institutionen« eingerichtet. Grund dafür ist, dass 80% der Gesetzgebung von den EU-Institutionen - also Kommission, Rat und Parlament – kommen. Bis die Gesetze in den Mitgliedsländern Gestalt annehmen, vergehen oft 2-3 Jahre. Dann kann es bereits zu spät sein, noch etwas zu ändern. Wenn man also bei der Gesetzgebung gehört werden will, muss man direkt beim Entstehungsprozess in Brüssel dabei sein.
Wie sieht die Tätigkeit der IUT in Brüssel aus?
Wir agieren als politische Interessenvertretung der Mieter und finden durchaus Gehör. Wir vertreten die Interessen der Mieter fundamental-rechtlich mit dem Recht auf Wohnen als übergeordnetem Element. Dazu kommen Mieterschutz und Stärkung der Verbraucherrechte. Die großen Themen der staatlichen Beihilfen und der Daseinsvorsorge wiederum fallen in den Bereich Wettbewerbspolitik. Nach dem Motto »Starke helfen Schwachen« plädieren wir für den Export von mehr Mieterschutz in Länder, die in diesem Bereich Aufholbedarf haben. Von daher versteht sich die IUT als Solidargemeinschaft und Teil der sozialen Bewegung.
Wo gibt es Aufholbedarf in Sachen Mieterschutz?
Ganz vereinfacht: die starken Mieterverbände in Nordwest und Zentraleuropa können den Aufbau eines sozialen Mietrechtes und einer sozialen Wohnbauförderung exportieren. In Osteuropa liegen die Gründe für den weniger ausgeprägten Mieterschutz darin, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs viele Sozialwohnungen privatisiert wurden. Dort leben jetzt die sogenannten »poor owners« – arme Eigentümer. Diese Wohnungseigentümer haben sich nicht organisiert. Jeder ist mehr oder weniger auf sich allein gestellt, daher sind große Investitionen wie eine Sanierung der Heizungsanlage oder des Daches in einem großen Plattenbau finanziell kaum möglich und werden deshalb oft auch nicht durchgeführt.
Beim Export nach Südeuropa spreche ich von Spanien und Italien. Dort gibt es eine Eigentümerkultur. Das liegt historisch zum Teil in den politischen Systemen dort begründet, die den Eigentumserwerb massiv forciert haben. Viele wurden dadurch zwar Eigentümer, waren aber ihr Leben lang gebunden – als »Mieter der Bank«, wie wir es nennen. Wer dort eine Wohnung sucht, muss eine große Hypothek aufnehmen, weil es kein ausreichendes Mietangebot im bezahlbaren Segment gibt.
Seitens der EU ist ja eine gewisse Anzahl von Mietverhältnissen erwünscht, weil dadurch die Mobilität der Arbeitskräfte sichergestellt werden soll...
In der EU-Terminologie nennt sich das »Labour Mobility«. Das ist der Kommission und der Mehrheit der Mitgliedstaaten sehr wichtig. Aus unserer Sicht kann sich nicht alles nur darum drehen, den Konzernen Arbeitskräfte zuzuführen. Aus unserer Sicht geht es um die Bezahlbarkeit des Wohnens. Wenn ein Mieter zu viel für das Wohnen ausgeben muss, wird sein ganzer Lebensentwurf fragil. Leistbares Wohnen ist ein Gradmesser für die soziale Gerechtigkeit, weil die Wohnkosten in jedem Haushalt den größten Teil des Budgets verschlingen. Das ist unser Ansatz und ich habe den Eindruck, dass das immer mehr Leute auch verstehen. Das ist nicht allein unser Verdienst, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass in der Mehrheit der europäischen Staaten in den letzten 30 Jahren die Investitionen in den sozialen Wohnbau massiv zurückgefahren wurden. Die EU selbst spricht von einer jährlichen Investitionslücke von 57 Milliarden Euro.
Vor kurzem ist eine europäische Bürgerinitiative („Housing for all“) gestartet, die exakt diese Investitionen thematisiert. Was trauen Sie dieser Initiative zu?
Wenn die Millionen-Hürde (für eine europäische Bürgerinitiative sind 1 Million Unterschriften nötig, Anm.) geschafft wird, bringt das wichtigen Rückenwind für unsere Arbeit. In Österreich wird die Initiative von der Mietervereinigung unterstützt, was es einfacher macht, das nötige Quorum (13.500 Unterschriften, Anm.) zu erreichen. Schwierig wird es in größeren Ländern, in denen es keine starke Mieterbewegung gibt oder der Wohnungsmarkt im Wesentlichen eigentumsgeprägt ist. In Polen oder Spanien beispielsweise, wo eine organisierte nationale Mietervertretung fehlt, braucht die Initiative mehr als 38.000 bzw. 40.000 Unterstützer. Dennoch sind wir zuversichtlich, das Thema leistbarer Wohnraum brennt europaweit auf den Nägeln und wir hoffen, die Menschen zur Europawahl und zur Bürgerinitiative zu mobilisieren.
Was ließe sich auf EU-Ebene in Bezug auf leistbares Wohnen verbessern?
Ein Ergebnis unserer Aktivitäten ist der Aktionsplan der EU-Städtepartnerschaft für bezahlbares Wohnen. Darin findet sich ein konkretes gesetzgeberisches Paket an Maßnahmen. Ein zentraler Punkt ist, dass Investitionen in Bildung, Gesundheit oder Wohnen nicht als Neuverschuldung im Sinn der Maastricht-Grenze (max. 3% des Bruttoinlandsproduktes, Anm.) gelten sollen. Weitere Punkte sind unter anderem Miet- und Preiskontrollen, verpflichtende Quoten für sozialen Wohnbau, Maßnahmen gegen Bodenspekulation und Gentrifizierung. Eine unserer wesentlichen Forderungen ist die Abschaffung der Zielgruppendefinition im sozialen Wohnbau, die massive Investitionen in den geförderten Wohnbau verhindert.
Die Definition, dass der soziale Wohnbau nur sozial Schwächeren zugutekommen darf, ist ein Problem?
Ja, weil es eine offene Flanke für Wettbewerbsklagen gibt. Wenn eine Gemeinde einem gemeinnützigen Investor im Rahmen eines Vergabeverfahrens den Zuschlag zu einem Wohnbauprojekt erteilt und in den Kriterien eine soziale Durchmischung, also auch der Zugang für mittlere Einkommensgruppengefordert war, kann ein anderer – beispielsweise ein privater – Investor klagen, denn laut geltendem EU-Recht sind die Zielgruppe des öffentlich subventionierten Wohnbaus nur sozial benachteiligte Bürger.. Weil der Markt derzeit heiß umkämpft ist, kommt es zu vielen Wettbewerbsklagen, etwa in Schweden, in den Niederlanden, in Frankreich. Das lähmt auch die Investitionstätigkeit. Denn kein Investor kann für die nächsten 30 oder 40 Jahre planen, wenn er nicht weiß, ob er eventuell Subventionen zurückzahlen muss. Das muss europäisch geregelt werden. In den beiden anderen Bereichen der Daseinsvorsorge - Bildung und Gesundheit - gibt es ja auch keine Zielgruppendefinition. Diese Definition existiert nur im Bereich des sozialen Wohnbaus. Aber die EU-Kommission bewegt sich nicht ohne massiven Druck aus den Mitgliedsstaaten. Der Anschub für eine Änderung des Beihilfenrechts muss also von den Mitgliedsstaaten kommen, hier sind die jeweiligen Bundesregierungen gefordert. Um den Druck zu erhöhen, stellen wir den gemeinsamen Aktionsplan der Städtepartnerschaft jetzt auch überall national vor. Wir haben drei Jahre für eine Mehrheit gekämpft - am Tisch saßen die Mitgliedsstaaten, die Kommission, die Europäische Investitionsbank, die Städte. Jetzt haben wir diese Mehrheit erzielt und müssen das umsetzen.
Wir wollen sozialen Wohnbau für breite Bevölkerungsschichten, der Mittelstand soll davon nicht ausgeschlossen werden. In Österreich ist diese Problematik nicht so stark spürbar, weil es durch Gemeindewohnungen und geförderte Wohnungen noch einen Mietendeckel gibt. In vielen anderen Ländern gibt es aber extreme Preisexplosionen und lange Wartelisten für Sozialwohnungen. Den Mietern bleibt dann nicht mehr viel übrig, als auf den privaten Markt auszuweichen. In Berlin haben sich die Wohnkosten in den letzten 10 Jahren verdoppelt, z.B. in Neukölln. Eine schleichende Enteignung der Mieterinnen und Mieter. Wenn nicht gegengesteuert wird, zahlt man angesichts der angespannten Marktlage bald 16-17 Euro Miete pro Quadratmeter.
Stichwort Berlin: Derzeit wird dort ja diskutiert, die großen Konzerne zu enteignen. Lange Zeit ist man den umgekehrten Weg gegangen und hat soziale Wohnungen verkauft. Das hat aber scheinbar nichts gebracht...
Es war ein Kardinalfehler, die öffentlichen Wohnungen zu verkaufen. Deutschland hat alles gemacht, was man in diesem Bereich nicht machen sollte. Teilweise war das auch der deutschen Einheit geschuldet, in deren Folge die Kommunen große Defizite hatten. In Dresden zum Beispiel sind 38.000 Wohnungen auf einen Schlag verkauft worden, und die Stadt war schuldenfrei. Aber nicht für lange. Nun müssen Belegungsbindungen für teures Geld auf dem Privatmarkt zugekauft werden. Jede Stadt braucht einen festen Bestand von Sozialwohnungen. Internationale Investoren haben unglaubliche Spekulationsgewinne gemacht: teilweise wurden durch En-bloc-Aufkäufe 10.000 Euro für Wohnungen bezahlt, die anschließend umgewandelt und für 100.000 Euro wieder verkauft wurden. Die Investoren sind aber nicht nur deutschland-, sondern europaweit unterwegs und versuchen jetzt alles zu kaufen, was nicht niet- und nagelfest ist. Es braucht internationale Strategien gegen die massiven Investitionen von ausschließlich profitorientierten Unternehmen auf den Wohnungsmärkten Der Ausverkauf unserer Städte muss durch gezielte Anti-Spekulationsgesetze verhindert werden. Die Enteignungsdebatte zeigt die Notwendigkeit eines Umdenkens, eines Systemwechsels – nicht nur in Deutschland. Wir brauchen mehr bezahlbare Mietwohnungen für alle statt Rendite für wenige.
Letzte Frage zum Thema Kurzzeitvermietung: Strebt man hier eine europäische Lösung an oder sollen das die Mitgliedstaaten alleine lösen?
Man muss das eine tun und das andere nicht lassen. Großinvestoren wandeln derzeit sehr viele Wohnungen in Kurzzeitvermietung um und entziehen dem Markt dadurch regulären Wohnraum. Auf städtischer Ebene muss man daher konkrete Regeln für die Kurzzeitvermietung erlassen. Die Städte müssen also ihre Hausaufgaben machen, und meines Erachtens ist es in den meisten touristisch attraktiven Großstädten Europas bereits passiert – in verschiedenen Varianten, von zeitlichen Befristungen bis hin zur Beschränkung der Vermietung auf einzelne Zimmer. Problematisch bleibt der Vollzug dieser Maßnahmen. Paris hat jüngst Airbnb auf Zahlung einer Geldstrafe von 12,5 Millionen Euro verklagt, da 1.000 nicht bei der Stadt registrierte Wohnungen weiter im Portal beworben wurden.
Nichtsdestotrotz muss man auch auf europäischer Ebene handeln. Es läuft ja bereits eine Beschwerde der European Holiday Home Association - das ist die Lobby der Kurzzeitvermieter - gegen verschiedene Regelungen auf städtischer Ebene. Die EU-Kommission hat sich bei diesem Thema bisher etwas naiv verhalten und meint, dass Kurzzeitvermietung Teil der Sharing Economy ist – wobei man die Sharing Economy nun ja auch fördern wolle. Man muss aber auch sehen, dass es Auswüchse gibt und ein Marktversagen. Vor kurzem haben die Städte Barcelona und Amsterdam – die massiv von diesem Problem betroffen sind – bei einer Anhörung im europäischen Parlament dargestellt, wie rasch und über welch verschlungene Konglomerate in diesem Sektor Geld bereitgestellt und teilweise weißgewaschen wird. Im Nachhinein ist es kaum mehr möglich, die Herkunft des Geldes nachzuvollziehen und die Investoren steuerlich zur Rechenschaft zu ziehen. Die progressiven Parteien im EU-Parlament haben gefordert, dass es eine Art von Register gibt, in dem eingetragen werden soll, wer die Immobilien kauft und wer der wirtschaftlich Begünstigte ist. Dazu gibt es im Bereich des Immobiliensektors noch gar keine Transparenz. Das muss Europa ernsthaft anpacken.
International Union of Tenants
Die International Union of Tenants (IUT), gegründet 1926, ist das Sprachrohr für 69 Mieterorganisationen aus 45 Ländern und betreibt Büros in Brüssel und Stockholm. Die MVÖ ist Gründungsmitglied der IUT.
Mehr Infos unter: www.iut.nu