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Österreich 29.09.2023

»Wie wird Boden verteilt und wer kontrolliert die Bodenpreise?«

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Fair Wohnen sprach mit dem Soziologen und Raumplaner Simon Güntner, einem der Herausgeber des neuen Buches »The Social Dimension of Social Housing« über die soziale Mischung in Wien, raum- und stadtplanerische Aspekte des Wohnens und die zentrale Rolle der Bodenpolitik.

 

Fair Wohnen: Ihr Buch »The Social Dimension of Social Housing« (Die soziale Dimension des sozialen Wohnbaus, Anm.) wurde augenscheinlich aufwändig gesetzt und produziert. Inhaltlich hängt das Buch mit der Internationalen Bauausstellung 2022 in Wien zusammen. Wie kann man sich das vorstellen?

 

Simon Güntner: Die internationale Bauausstellung fand unter dem Motto »Neues Soziales Wohnen« in Wien statt und war als Schaufenster für den Wiener Wohnbau im Wandel der Zeit, für dessen Neuorientierung aber auch für Inspirationen von außen konzipiert. Dieser Prozess ist über fünf Jahre gelaufen. In diesem Rahmen haben wir als Kuratorenteam jedes Jahr etwa 30 Experten aus allen Kontinenten eingeladen um über das, was in Wien als neues Soziales Wohnen diskutiert wird, zu reflektieren. Aus diesem über die Jahre gewachsenen Netzwerk an Wissenschaftlern und Aktivisten haben wir jene, die besonders spannende Beiträge verfasst hatten, gefragt, ob sie einen Essay oder eine Reflexion schreiben könnten zur Frage: was ist eigentlich das Soziale am sozialen Wohnbau? Das hat zu vielen verschiedenen Formaten geführt, von kurzen persönlichen Essays über Interviews bis hin zu konzeptionellen und theoretischen Beiträgen. Und noch ein Punkt zur Buchgestaltung: Mit Juma Hauser hatten wir eine Künstlerin an Bord, die in enger Kooperation mit den Autoren auch eine passende grafische Sprache gefunden hat.

 

In der Einleitung findet sich ein Verweis auf einen Essay des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, dass sich soziale Realitäten in die physische Welt einschreiben. Kurzum: die schönsten Lagen reservieren sich Vermögende und weniger gute Lagen in der Stadt werden unter jenen verteilt, die sich die besseren nicht leisten können. In Wien sagt man gerne, dass die Segregation im Vergleich zu anderen Städten gering ist. Konnten Sie feststellen, ob das in Wien wirklich anders ist?

 

In Wien gibt es sicherlich eine andere sozialräumliche Struktur als in vergleichbaren Städten. Auf der anderen Seite gibt es nicht in der ganzen Stadt sozialen Wohnbau, und gemessen an Wohnflächenverbrauch und Mietsicherheit schneidet Wien nicht ganz so gut ab. Der Integrationsmonitor der Stadt zeigt, dass Leuten ohne Migrationshintergrund deutlich mehr Wohnfläche zur Verfügung steht als anderen. Insofern gibt es schon eine ungleiche Verteilung. Im Gemeindebau und im gemeinnützigen Wohnbau existieren Systeme, die auch einige soziale Gruppen ausschließen. Diese Leute sind angewiesen auf andere Segmente in der Stadt, wo dann auch Unsicherheiten greifen. Zugewanderte haben mehr befristete oder prekäre Mietverhältnisse. Insofern ist der Wiener Wohnungsmarkt durchaus gespalten. Auch bei den gut 200.000 Gemeindewohnungen gibt es Unterschiede in der Qualität. Aber bei aller Kritik: Die Teilnehmenden unserer Veranstaltungen waren immer wieder positiv erstaunt darüber, wie viel Wohnraum von der Stadt über Gemeindebauten und gemeinnützigen Wohnbau zur Verfügung gestellt wird.

 

Raumplanung ist einer Ihrer Forschungsschwerpunkte. In vielen Städten ist das Zentrum am teuersten und am gefragtesten. An der Peripherie wird es scheinbar günstiger.

 

Jede Stadt ist anders, auch in ihrer Topographie. In kapitalistisch orientierten Städten wird Zentralität hoch bepreist. Es gibt den Begriff des teleskopischen Urbanisimus, der den Versuch beschreibt, im Zentrum attraktiv zu sein um Kapital anzuziehen und hohe Preise generieren zu können – während jene, die man nicht sehen will, draußen gehalten werden. Das ist die Attitüde vieler neoliberaler Stadtregierungen. Dem neoliberalen Leitbild des teleskopischen Urbanismus steht als Gegenmodell der soziale Urbanismus gegenüber. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die kolumbianische Stadt Medellin, wo Seilbahnen gebaut wurden, um Siedlungen außerhalb anzubinden – aber auch, um sie zu kontrollieren.

 

Können sich Reiche kurze Wege leisten und müssen Arme ihre Lebenszeit für längere Arbeitswege opfern?

 

Städte waren immer schon segregiert und Reichtum konzentriert sich auch in den Speckgürteln. Die These greift zu kurz und ist zu pauschal. Während z.B. im frühen 20. Jahrhundert in den USA Städte nach kapitalistischer Raumstruktur – hoch segregiert – entstanden sind, haben sozialistische Stadtregierungen – wie im Roten Wien – versucht, mit sozialem Wohnbau und Infrastrukturplanung gegenzusteuern.

 

Im internationalen Vergleich ist die Struktur Wiens untypisch, auch jenseits des Wohnbaus. Denken wir an den Arbeiterstrand – die Idee, die Infrastruktur für die Arbeiterklasse zu öffnen, gab es nur in wenigen Städten auf der Welt. Es gibt also immer zwei Kräfte: man schlägt aus Zentralität Kapital oder man versucht diesen Mechanismus auszuhebeln. Ein Begriff, um den sich diese Positionen ranken, das ist das »Recht auf Stadt«, ein Konzept des französischen Philosophen Henri Lefebvre. Aus den späten 1960er-, 1970erJahren heraus, aus der Erfahrung von entfremdenden Stadtstrukturen mit der effizienzorientierten Trennung von Arbeit und Wohnen, haben Stadtkritiker versucht, die Stadt neu zu denken. »Recht auf Stadt« formuliert u.a. einen Anspruch auf Zentralität und dass erreichbare Lagen erschwinglich bleiben. Der Städtebau in Europa hat im 20. Jahrhundert Arbeit und Wohnen getrennt und die Leute im Prinzip vom Auto abhängig gemacht. In Wien mildert dies ein ungewöhnlich gut funktionierender öffentlicher Nahverkehr ab. Wir diskutieren derzeit viel über leistbares Wohnen, und es würde Sinn machen, diesen Diskurs zu öffnen hin zu einer leistbaren Stadt – weil leistbares Wohnen zwar an den Rändern der Stadt stattfindet, aber durch Mehrkosten für Zeit, Mobilität und dergleichen nivelliert wird.

 

Stichwort leistbares Wohnen. Wie manifestiert sich das? Was ist leistbar? Was fällt noch unter Wohnkosten? Du hast eben angesprochen, das breiter aufzumachen und andere Kosten dazu zu rechnen. Es ist ein Unterschied, ob ich an der Peripherie wohne und dann ein Auto brauche, damit ich überhaupt zur Arbeit komme. Wie kann man den Gummibegriff der Leistbarkeit festmachen?

 

Es gibt kein Konzept von Leistbarkeit, das den Anspruch hat, global akzeptiert zu sein. Leistbarkeit ist ein außerhalb von Österreich wenig gebräuchlicher, aber sehr guter Begriff, weil man damit auch die Frage stellen kann: was wollen, was können wir uns leisten? Es gibt verschiedene Definitionen der Leistbarkeit.

 

Die zentrale Frage ist: wie wird der Boden verteilt und wer kontrolliert die Bodenpreise? Ich denke, eine Gesellschaft tut gut daran, die Verfügung von Boden demokratisch auszuhandeln und dies immer ins Verhältnis zur Entwicklung auf den Arbeitsmärkten zu setzen. Wenn die Löhne steigen, kann man auch höhere Mieten zahlen. Auf der anderen Seite: was macht man mit den höheren Mieten? Ein wirkliches Glück für die österreichische Gesellschaft ist, dass es einen breiten Konsens für das Prinzip der Gemeinnützigkeit gibt. In Deutschland wurde die Gemeinnützigkeit in der Wohnungswirtschaft abgeschafft und nun gibt es schwere, zähe Debatten darüber, dies wieder einzuführen. Es ist ein ganz schwieriger Weg, wieder zurückzukommen.

 

Zu den Bodenpreisen: die werden ja auch politisch ausgehandelt, zum Beispiel durch die Art der Widmungskategorie, die die Politik einem Stück Boden zuweist…

 

Ob Staat oder Kommune, es ist eine Grundsatzentscheidung zu treffen: wird Boden verkauft oder bleibt er in der öffentlichen Hand? Es gibt viele Möglichkeiten, den Boden produktiv zu machen und trotzdem die Kontrolle darüber zu halten. Erbpacht ist zum Beispiel ein unglaublich effektives Instrument. Es gibt aber auch viele Regionen und Zusammenhänge, wo das ganz dezidiert abgelehnt wird, weil die Meinung dominiert, dass über Boden ganz selbstverständlich privat verfügt werden soll. Angesichts der globalen Wohnungsnot und der immensen sozialen Ungleichheit ist es aber wichtig, Alternativen zur Privatisierung zu diskutieren.

 

In einer wachsenden Stadt gibt es Konflikte um Verdichtung und die Nutzung des vorhandenen Raumes im Spannungsfeld zwischen Nutzern und Eignern. Wird dies künftig noch härter verhandelt werden?

 

In der alten Stadt gab es die Verbindung von Wohn- und anderen Nutzungen aus der Notwendigkeit heraus – es war klar, dass sich die Menschen fußläufig versorgen müssen. Durch die Automobilisierung und die Erfindung neuer Infrastrukturtechnik wurde das verschüttet und wird jetzt wieder entdeckt als Wert von Nachbarschaft. Auch in Wien sind ja reine Wohnsiedlungen gebaut worden. Der Forschungsbereich Wohnbau und Entwerfen an der Technischen Universität Wien stellte mit einer der Stadt Wien gewidmeten Ausgabe der Architekturzeitschrift „Arch+“ 2021 die Frage nach dem Ende des Wohnbaus als Typus in der Architektur. Dort wurde postuliert, dass wir Wohnbau heute breiter denken müssen als bislang. Der Wohnalltag reduziert sich nicht auf Schlafen, Kochen und Waschen.

 

Spannend, dass der Begriff »sozialer Wohnbau« einengend wirkt im Sinne des vorangestellten Wohnens...

 

Wer kann ein Haus so bauen, dass es funktionale Erdgeschosse mit Wohnund Gewerbenutzung verbindet? Die gemeinnützigen Bauträger sind im Bereich des Wohnens innovativ, aber bei gemischten Nutzungen sind wir noch mitten in einem Lernprozess mit Luft nach oben. Man könnte die Genossenschaftsgedanken auch auf das Gewerbe übertragen, da ließe sich viel experimentieren. Die Erdgeschosszonen sind ein wichtiges Thema. Für unseren Alltag sind die Erdgeschosszonen enorm wichtig und eine oftmals untergenutzte Ressource.

 

Das Erdgeschoss verbindet letztendlich das Haus mit der Stadt.

 

Es gibt spannende Experimente, diese Verbindung neu zu denken, auch über gewerbliche Nutzung hinaus. Man könnte zum Beispiel Schulen in Erdgeschosszonen verteilen. In Wien wird versucht, die Erdgeschosszonen mit ökonomischen Mitteln wie günstigen Mieten für Einzelhändler zu beleben, etwa im Sonnwendviertel. Es haben aber nicht alle Wohnbau-Unternehmen mitgespielt und es finden sich immer noch Fahrradabstellräume im Erdgeschoss. Es wäre jedoch fatal, hier zurückzustecken oder aufzugeben.

 

Es gibt den Kampf um den Boden, den Kampf um leistbares Wohnen, alles muss verhandelt werden. Jetzt kommt noch die Klima-Problematik dazu, die bisher kaum eine Rolle gespielt hat. Muss eine Kommune einen Masterplan Klima haben, muss man stadt- und raumplanerisch in einem größeren Maßstab zu denken beginnen?

 

Ganz dringend. Die zentrale Frage ist: wie können Menschen mit weniger als bisher besser klarkommen? Nicht jeder Standard an den wir uns gewöhnt haben, ist tut uns auch gut. Wir brauchen nicht 43 Quadratmeter pro Person. Im globalen Maßstab ist das wahnsinnig viel. Aber niemand mag mit weniger auskommen müssen. Daher müssen wir Strukturen schaffen, die das Weniger besser machen. In Wien gibt es eine enorme Expertise und viele kompetente und kreative Leute, die sich diesen Fragen widmen.

 

Aber die Stadt ist ein großer Tanker und große Tanker bewegen sich nicht schnell. Damit muss man rechnen, auch wenn es fünf vor zwölf ist.

 

Welche Fragen werden wir uns in 10 Jahren stellen? Wird es gelingen, den Klimawandel zu bekämpfen?

 

Alles deutet darauf hin, dass wir die aktuellen Klimaziele verfehlen – aber ich denke dennoch, dass sich etwas bewegt. Die Klimaaktivistin Katharina Rogenhofer hat ihr empfehlenswertes Buch „Ändert sich nichts, ändert sich alles“ betitelt. Das macht deutlich, dass wir uns die derzeitigen Strukturen einfach nicht mehr leisten können. Es wäre fatal, wenn wir das nicht schaffen. Aber wie gesagt, das zunehmende Interesse und Engagement für energieeffiziente und ressourcenschonenden Lösungen stimmt mich durchaus auch optimistisch.

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