Oberösterreich, Österreich, Wien 12.12.2024
Wir werden nicht jünger; im Gegenteil: wir werden immer älter. Die Frage ist: wo und wie kann selbstbestimmtes Wohnen im Alter funktionieren – und was brauchen wir dafür? Fair Wohnen hat sich auf die Suche nach Antworten gemacht.
Hand auf Herz: Werden Sie in 10, 20, 30, vielleicht auch 40 Jahren ihr Haus oder ihre Wohnung noch nutzen können? Werden Sie die paar Stufen hinauf zur Eingangstür noch schaffen? Wird der Ein- und Ausstieg in die Badewanne zur gefährlichen Rutschpartie? Sind die Stufen rauf in den ersten Stock und runter in den Keller ohne Treppenlift machbar oder bleiben diese Geschosse dann ungenützt? Was tun? Wie kann selbstbestimmtes Wohnen im Alter funktionieren? Welche Möglichkeiten gibt es, welche Probleme sind zu lösen?
Demografischer Wandel
Handlungsbedarf ist jedenfalls gegeben, denn die Lebenserwartung in Österreich steigt und wir stehen mitten in einem demografischen Wandel. Der Anteil der über 65-Jährigen sowie auch jener der Hochbetagten steigt massiv an. Heute sind rund 1,8 Millionen Österreicher Senioren in der Altersgruppe 65+. In 10 Jahren werden es 2,4 Millionen sein, im Jahr 2050 gar schon 2,7 Millionen.
Gedanken machen
Wo und wie werden die Senioren dann wohnen? Eine Frage, die man rechtzeitig stellen sollte, meint Franz Koppelstätter, Architekt und Leiter des architekturforums oberösterreich (afo). »Derzeit machen sich Menschen erst im Alter zwischen 75 und 80 Gedanken darüber, wie sie im Alter wohnen möchten oder werden. Wir wollen dazu beitragen, dass sich die Menschen schon früher darüber Gedanken machen«, skizziert Koppelstätter Motivation und Grundgedanke hinter der afoAusstellung »Wie geht's, Alter?« im Gespräch mit Fair Wohnen.
Schwerpunkt Land
Schwerpunkt der Ausstellung ist der ländliche Raum. Warum? Die Wohnvorstellungen in Österreich sind hoch konservativ, wie Soziologe Christoph Reinprecht in einem Fair-Wohnen-Interview 2022 ausführte: »Ich glaube, Österreich ist in der Realität nach dem Ersten Weltkrieg ein kleinbürgerlicher und in gewissem Sinne auch ländlich geprägter Staat und eine kleinstädtisch-ländlich geprägte Gesellschaft – mit der Ausnahme Wien«, so Reinprecht. »Die kleinbürgerliche Vorstellung des Eigenheims korrespondiert mit einer Form der Lebensführung, die wenig Mobilität impliziert. Die Idee einer generationenübergreifenden Sesshaftigkeit und Stabilität steht allerdings in Konflikt mit Realitäten wie Bildungsaufstieg, beruflicher Mobilität, hohen Scheidungsraten. Die Leute bauen Häuser und lassen sich zehn Jahre danach scheiden. Die Leute bauen übergroße Häuser für ihre Kinder, die dort nie leben werden. Das ist kulturell fest verankert und wurde lange durch die Wohnbauförderung, die gerade in den Bundesländern stark in Einfamilienhäuser ging, auch institutionell gefördert.«
Koppelstätter will mit der Ausstellung auch Hoffnung für die Situation der Senioren am Land wecken: »Im Zuge unserer Workshops mit Experten haben wir festgestellt, dass ländliche Räume in dieser Frage nicht nur große Herausforderungen, sondern auch ein großes Potenzial haben.«
So wohnt 65+ in Österreich
Wie wohnen Österreichs Senioren heute? Mehr als die Hälfte der über 65-Jährigen wohnt im Eigentum: 13 Prozent in einer Wohnung, 41 Prozent in einem Haus (siehe Grafik rechts). Der hohe Eigenheim-Anteil sorgt auch dafür, dass Senioren-Haushalte im Durchschnitt auf 85 Quadratmeter Wohnfläche leben, während unter 30-Jährige dagegen auf gerade einmal 59 Quadratmetern wohnen.
Das meist schon abgezahlte Haus bzw. die ausfinanzierte Eigentumswohnung oder auch ein vor längerer Zeit abgeschlossener unbefristeter Mietvertrag sind Gründe dafür, dass die Altersgruppe 65+ bei den durchschnittlichen Wohnkosten günstiger wegkommt als die Gruppen im Erwerbsalter. Pro Quadratmeter betragen die Wohnkosten für die Senioren im Schnitt 4,7 Euro (siehe Grafik rechts).
Geringere Einkommen in der Pension in Kombination mit größeren Wohnflächen wiederum machen sich im relativen Wohnkostenanteil bemerkbar. Hier ist es fast ein Viertel der Senioren-Haushalte, die mehr als 25 Prozent ihres Einkommens für Wohnkosten ausgeben müssen, deutlich mehr als in der Altersgruppe 35-64 Jahre (siehe Grafik rechts).
Neue Wohnformen fürs Land
Damit wieder zurück aufs Land: In kleinen Gemeinden (mit weniger als 10.000 Einwohnern) leben zwei von drei Einwohnern im Eigenheim. Dagegen sind gemeinschaftliche Wohnformen weniger bekannt und nachgefragt. Mit ein Grund sei, dass bisher alternative Baukonzepte weder von der klassischen Wohnbauförderung, noch von anderen Förderstellen entsprechend unterstützt und forciert werden, so Koppelstätter. Die Ausstellung des architekturforums oberösterreich versuche daher, neue Wohnkonzepte bekannter zu machen.
Beispiele gibt es schon
Das Rad muss nicht neu erfunden werden. »Gemeinschaftliche Wohnformen wie Clusterwohnungen und Baugruppen können ohne weiteres von der Stadt ins Dorf exportiert werden«, sagt Eva Schmolmüller, Architektin, Sozialarbeiterin, und Kuratorin der Ausstellung.
Clusterwohnungen
Clusterwohnungen erklärt Schmolmüller im Fair-WohnenGespräch als »Wohngemeinschaften plus mehr Qualität«. Im Unterschied zu einer klassischen WG hat jeder seine eigene Rückzugsmöglichkeit mit 20 bis 40 Quadratmetern inklusive eigener Küchenzeile und Sanitärzelle – eingebettet in eine größere Wohneinheit mit Gemeinschaftsküche und Aufenthaltsräumen. Ein Beispiel in Wien ist die WG Melange der Caritas, wo die Bewohner beim Zusammenleben durch Moderation unterstützt werden.
Baugruppen
Eine Baugruppe wird gemeinsam als ganzes Haus neu errichtet oder saniert. »Hier gibt es Modelle, wo zum Beispiel jede Person eine eigene Wohnung hat, aber zusätzlich zum Beispiel im Erdgeschoss auch eine Gemeinschaftsküche existiert oder im Dachgeschoss eine Bibliothek«, so die Kuratorin. Ebenfalls aus Wien kommt das Beispiel Wohnen ohne Alterslimit (woal), mit vielen Entscheidungsprozessen für die Bewohner.
Das Beispiel Oberried
In Oberried, einer 3.000-SeelenGemeinde mitten im beschaulichen Schwarzwald und rund 15 Autominuten von Freiburg entfernt gelegen, hat Schmolmüller ein Best-Practice-Beispiel entdeckt. Dort betreibt eine Bürgergemeinschaft, die derzeit aus 400 Mitgliedern besteht, den »Ursulinenhof«, eine selbstverwaltete Wohngruppe. Das neu errichtete Gebäude orientiert sich an einem Alltag in häuslicher Atmosphäre und liegt im Ortszentrum. Die Bewohner wohnen dort zur Miete, Pflege und Betreuung sind auch für schwer pflegebedürftige Menschen bis zur höchsten Pflegestufe möglich. Das Besondere ist, dass die Gemeinde selbst als Investorin auftritt. Im »Ursulinenhof« gibt es zusätzlich zur Wohngemeinschaft auch eine Tagesstruktur, wo jeden Tag ein anderer Wirt des Ortes das Essen liefert. »Der Grundgedanke ist: man bekommt Lebensqualität als Rendite«, erklärt Schmolmüller. Das funktioniere in Deutschland, in Österreich gebe es jedoch keine Förderung für selbstverwaltete Pflegewohngruppen.
Zwischen den Stühlen
Koppelstätter legt am Beispiel Oberösterreich den Finger in die Wunde: »Viele Gemeinden in Oberösterreich sind für ein eigenes Pflegeheim zu klein, für Clusterwohnungen oder Baugruppen ist wiederum der geförderte Wohnbau zu groß. Zwischen diesen beiden Polen braucht es mehr Möglichkeiten.«
Leuchtturmprojekte multiplizieren
Das Problembewusstsein sei in der Lokalpolitik angekommen, doch für Lösungen brauche es Unterstützung: »Wo kommt das Wissen über Förderungen, Wohnformen, Pflege her? Es gibt herausragende Beispiele von Bürgermeistern, die sich dieses Wissen angeeignet und Projekte realisiert haben. Trotzdem: in Oberösterreich gibt es 438 Gemeinden, und wir haben nur eine Handvoll richtig gute Projekte gefunden. Die Herausforderung ist, die Leuchtturmprojekte in die Breite zu bringen und zu multiplizieren«, sagt der Architekt.
Bürgergenossenschaft
Ein zentrales Thema ist die Finanzierung von Projekten. »Was bei Leuchtturmprojekten funktioniert, ist das Modell der Bürgergenossenschaft, über die man die Finanzierung aufzieht und damit auch die Bürger mit einbindet. Ein Satz der in diesem Zusammenhang immer wieder gefallen ist, war: Beteiligung schafft Verantwortung«, so Schmolmüller.
Beratung verbessern
Wer sich rund um den Pensionsantritt Gedanken um das Wohnen im Alter mache, brauche eine Beratungsstelle, die über Projekte und die Möglichkeiten gemeinschaftlichen Wohnens informiere, schlägt die Kuratorin vor: »Derzeit ist es ein mühsamer Weg, allein alle Informationen zusammenzutragen: welche Förderungen gibt es, welche Wohnmodelle gibt es? Dann kommen die praktischen Schritte: gibt es überhaupt ein Grundstück, gibt es eine Immobilie? Wie macht man die Finanzierung? Es braucht eine Beratungsstelle und es braucht diversere Angebote.«
Wer ist am Zug?
Eine solche Beratungsstelle wäre »Ländersache, der Bund hat da relativ wenig Spielraum. Gefragt sind die Länder und auch die Gemeinden. Die Verteilung der Gelder in diesem Bereich ist ein sehr komplexes System. Der erste Schritt wäre: die Landesgesetzgebungen zu überarbeiten«, sagt Koppelstätter. »Derzeit gibt es viele Beratungsstellen, die zu 24-Stunden-Pflege, zu mobilen Diensten usw. beraten können. Eine andere Stelle wiederum berät nur zur Wohnbauförderung. Diese Beratungsleistungen in einer Stelle zu verbinden, wäre wichtig«, ergänzt Schmolmüller. Es gibt funktionierende Beispiele und es ist höchste Zeit zu handeln, damit wir alle im Alter bestmöglich wohnen können.